Ein Junge in einem schwarzen Oberteil mit japanischen Schriftzeichen ist von hinten zu sehen, wie er an einem Tisch mit anderen Jugendlichen sitzt

Manche verhaltensauffällige Jugendliche benötigen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Doch solche Gruppenplätze sind rar. Zu Besuch in der einzigen intensivpädagogischen Kleinstwohngruppe im Odenwaldkreis, wo sich nach einem Jahr erste Erfolge zeigen.

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Wohngruppe für Systemsprenger im Odenwald

Der 14 Jahre alte Dylan sitzt in seinem Zimmer in einer Wohngruppe an einem Tisch und zeichnet
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In seinem Zimmer genießt Dylan Privatsphäre. An einer Wand hängen Anime-Poster. Eine große Bibel, die er auf der Straße fand, steht in einem Regal. In seinem persönlichen Journal kleben Fotos von früher: Babyfotos oder Fotos, auf denen seine Mutter ihn im Arm hält. Geduldig und gründlich zeichnet der 14-Jährige auf den freien Seiten des Journals Figuren, die er aus seinen Lieblings-Animes kennt. So friedlich, wie Dylans Leben derzeit vermeintlich ist, sah es nicht immer aus.

Als er noch keine 13 Jahre alt war, verzweifelte das Jugendamt bereits an ihm. In seiner Familie stiftete er Streit und verschwand oft. Seine Mutter gab das Sorgerecht für ihn ab. Er kam in reguläre Wohngruppen, doch dort war er zu aggressiv und rastete oft aus. Als Notlösung brachte das Jugendamt Dylan in einem Hotel unter. Zunächst Tag für Tag, dann für Wochen, schließlich für ganze Monate. In dieser Zeit geriet er erst recht auf die schiefe Bahn, wie er sagt.

Fünf Betreuer für fünf Jugendliche

"Ich habe dort jeden Tag geklaut, ich habe gekifft und bin an falsche Kontakte geraten", erzählt Dylan: "Ich habe eine kurze Zeit lang mit Drogen gehandelt, habe teilweise Kokain gepresst und schwarz in einem Restaurant gearbeitet. Für Geld hätte ich in dieser Zeit alles gemacht." Dylan sammelte extreme Erfahrungen, die ihn bis heute begleiten. Heute steht er in der Obhut des St. Josephshaus Kinder- und Jugendhilfezentrums und darf in der intensivpädagogischen Kleinstgruppe Benedikt in Michelstadt wohnen.

Im Odenwaldkreis gibt es keine andere Wohngruppe dieser Art. Fünf Betreuer, von denen einer sogar in dem Haus wohnt, kümmern sich rund um die Uhr um fünf Jugendliche im Alter von zwölf bis 15 Jahren. Dazu kommen eine sogenannte Inhouse-Beschulung, bei der zwei Förderlehrkräfte direkt in der Unterkunft unterrichten, und ein multiprofessionelles Team von Sozialarbeitern und Psychologen, das die Jugendlichen tagtäglich begleitet.

Weg von Stress und Reizüberflutung

Bereichsleiter Holger Linden gründete die Wohngruppe im März 2023. Ein wichtiger Baustein im Konzept der Intensivbetreuung: eine ruhige Umgebung. "Hier können die Kinder nicht in große Versuchungen kommen wie beispielsweise in Großstädten", sagt Linden. Im kleinen Michelstädter Ortsteil Weiten-Gesäß mit rund 1.000 Einwohnern wohnen die fünf Jungen seit einem guten Jahr in einem sanierten Haus am Waldrand.

Ein weiß getünchtes Haus in Michelstadt

Der alte Hof mit Scheune steht auf einem Grundstück mit großem Garten, dahinter sind gleich Wald und Wiesen. In der Idylle können die Jugendlichen Abstand zu Stress, Hektik und Reizüberflutung finden sowie Raum, um sich zu entwickeln und zur Ruhe zu kommen. Das ländliche Leben unterstütze die Gewaltprävention, die Traumapädagogik und die Aggressionsbewältigung, die das Konzept der Intensivbetreuung vorsieht, erklärt Holger Linden. In dem großen Haus hat jeder sein eigenes Zimmer, außerdem gibt es einen TV-Raum und einen großen Gemeinschaftsraum mit Kamin, dazu kommen die Klassenräume im Erdgeschoss.

Kinder sollen sich entfalten können

Nicht jedes verhaltensauffällige Kind benötigt intensivpädagogische Betreuung. Oft hilft schon das Leben in einer regulären Wohngruppe mit mehr Kindern und weniger Betreuern. Erst wenn die Erziehungsmethoden dort zu keinem Erfolg führen, kommt eine Intensivbetreuung in Frage.

"In normalen Wohngruppen mit zehn Kindern würden die Jungs vieles nicht aushalten und an ihre emotionalen Grenzen kommen", sagt Bereichsleiter Linden: "Es gibt impulsives, aggressives, körperlich und auch sexuell grenzüberschreitendes Verhalten - das kann eine normale Gruppe nicht ertragen." Solche Systemsprenger, wie Linden sagt, bräuchten deutlich kleinere Gruppen: "Jeder braucht einen eigenen Betreuer, und dann sind sie hier richtig. Hier können sich die Kinder endlich entfalten."

Jugendliche und ein Lehrer in einem Klassenraum in dem Haus der Wohngruppe

Die Jugendlichen bei Benedikt haben bereits zahlreiche Einrichtungen durchlaufen. Mit der Kleinstwohngruppe wollte Holger Linden nach eigener Aussage eine Alternative zu deutlich drastischeren Erziehungshilfen wie beispielsweise einer Intensivbetreuung im Ausland bieten: "Ich sehe, wie toll die Kinder bei uns wachsen. Ich wollte etwas entwickeln, was die Kinder nicht fallen lässt. Ansonsten gehen sie verloren."

Erzieher, Bezugsperson, Freund

Christian Rothermel lebt Tür an Tür mit den Jugendlichen. Als beiwohnender Erzieher ist er Tag und Nacht Ansprechpartner für sie und trägt besonders viel Verantwortung. Seine Lebensgefährtin wohnt ebenfalls in dem Haus und kümmert sich jeden Tag um ein warmes Mittagessen. Rothermel war selbst ein Heimkind und wurde in einer Wohngruppe groß.

"Ich kenne beide Seiten der Medaille", sagt er: "Ich selbst war ein schwieriges Kind und weiß, wie anstrengend es ist, in einer Einrichtung zu sein." Rothermel erzählt von Eskalationen in der Kleinstgruppe, Wutausbrüchen, fliegenden Stühlen, Messerattacken. Trotzdem hinterfrage er seinen Beruf nie, sagt er: "Es war mein Traum, hier zu sein. Die Kinder brauchen jemanden, der sie versteht. Ich möchte den Jungs mitgeben, dass wir ihnen helfen können, genauso wie auch mir geholfen wurde."

Betreuer Christian Rothermel und mehrere Bewohner der Wohngruppe sitzen an einem Tisch

Für Dylan ist Christian Rothermel nicht nur ein Erzieher, sondern auch eine Bezugsperson und ein Freund. "Er ist mir sehr ans Herz gewachsen", sagt der 14-Jährige: "Wenn wir Hilfe brauchen, hilft er uns. Und er macht auch Sachen, die andere Pädagogen nicht machen - zum Beispiel hat er uns allen ein Handy geholt. Er ist auch ein Grund dafür, wieso ich mich so gebessert habe."

Schwerpunkt auf emotionaler und sozialer Entwicklung

Das Ziel einer intensivpädagogischen Betreuung ist nicht nur die Resozialisierung der Kinder. Es geht auch um schulische Bildung. Im Unterricht lernen sie Mathe, Englisch und Kunst, doch der Förderschwerpunkt liegt auf ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung. Wird der Unterricht zu anstrengend für ein Kind, darf es beispielsweise Pause machen. "Es sind Schüler, die sehr besondere Talente haben, teils hochbegabt sind, aber auch sehr anstrengend sein können", sagt Heike Breid, die Traumapädagogin der Kleinstgruppe.

Eine Psychologin begleitet die Jugendlichen zudem zehn Stunden pro Woche. In einer regulären Wohngruppe umfasst das psychologische Angebot zehn Stunden im Monat. Waldpädagogik und Anti-Aggressions-Training helfen den Jungen, ihren emotionalen Druck und ihre Traumata verarbeiten zu können. In Zukunft soll es in der Gruppe auch Therapietiere wie Katzen oder einen Hund geben. Geplant ist, dass die Jugendlichen mithelfen, die Scheune des alten Hofguts so herzurichten, dass dort ein Raum für Sport entsteht.

Auf dem Weg der Besserung

Die Pädagogen und Psychologen wollen die Jugendlichen derart stärken, dass sie sich auch in regulären Wohngruppen zurechtfinden oder so bald wie möglich zu ihren Eltern zurückkehren können - am besten, ohne dass das Jugendamt in die Aufsicht eingebunden sein muss. Wann das sein wird, lässt sich aufgrund der schweren Traumata oder psychischen Störungen nicht vorhersagen. In der Kleinstgruppe sollen die Jugendlichen zunächst in aller Ruhe zu sich finden - ohen Erwartungsdruck.

Zwei Männer und ein Jugendlicher sitzen auf einer Bank in einem gelb gestrichenen Raum

Seit einem Jahr wohnt Dylan nun bei Benedikt. "Den Dylan vor einem Jahr würde ich nicht wiedererkennen", erzählt er: "Von Drogen und Alkohol halte ich mich jetzt fern. Ich bin hier auch noch nie abgehauen und bin einfach ruhiger geworden."

Mittlerweile ist er Gruppensprecher. Er hat ein Praktikum in einem Altenpflegeheim absolviert. In seiner Freizeit spielt er auf der Playstation, liest Animes oder unternimmt etwas mit der Gruppe. Zuletzt waren die Jungen Lasertag spielen und in einem Freizeitpark unterwegs, im kommenden Jahr möchte Dylan mit seinen Mitbewohnern zur Comic Convention nach Wiesbaden. Vor allem will er auf dem Weg der Besserung bleiben.

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Mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung

Nach Angaben des Statistischen Landesamts erfassten Jugendämter in Hessen rund 16.600 Fälle von Kindeswohlgefährdung im Jahr 2022, das seien so viele wie noch nie gewesen. 5.600 davon waren demnach akute Notfälle, ebenfalls ein neuer Höchststand.

Im selben Zeitraum ordneten hessische Jugendämter rund 6.500 vorläufige Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche an, wie der Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien berichtet. Dabei handelte es sich um Inobhutnahmen oder Herausnahmen aus einem Heim, der eigenen Familie oder einer Pflegefamilie. Im Jahr 2022 gaben die Jugendämter demnach rund 16.600 Gefährdungseinschätzungen ab, sieben Prozent mehr als im Vorjahr und mehr als doppelt so viele wie zu Beginn der statistischen Aufzeichnung im Jahr 2012 (rund 7.200 Fälle).

Zugleich fehlt es in intensivpädagogischen Wohngruppen oft an Personal - ein Grund dafür, wieso es nicht mehr von ihnen gibt. Die Kleinstgruppe Benedikt in Michelstadt zum Beispiel sucht nach einem zusätzlichen Erzieher.

"Ich habe jede Woche drei, vier neue Aufnahme-Anfragen für unsere Gruppe", berichtet Bereichsleiter Holger Linden: "Wir haben eine Wartezeit von über einem Jahr." Es müsse mehr Kleinstgruppen geben, findet er. Ansonsten seien Jugendämter gezwungen, zu Notlösungen wie Hotelunterbringungen zu greifen, die keinem Erziehungskonzept entsprechen. "Es braucht immer besondere Konzepte für besondere Menschen", sagt er.

Die Kosten für eine intensivpädagogische Kleinstgruppe wie in Michelstadt liegen bei etwa 480 Euro pro Tag und Kind. Finanziert werden sie von den Jugendämtern, die für die Kinder und Jugendlichen Verantwortung tragen.

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