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Prozess nach Tod eines Obdachlosen: Polizist macht sich Vorwürfe

Viele Kerzen, die leuchtend auf einem Straßenboden stehen.

Am zweiten Tag des Mordprozesses nach dem Tod eines Obdachlosen in Darmstadt geht es auch um die Rolle der Polizei. Ein Beamter, der in der Tatnacht im Einsatz war, macht sich selbst schwere Vorwürfe - und quittierte seinen Dienst.

Mit zitternden Händen sitzt Polizeihauptkommissar G. im Zeugenstand des Darmstädter Landgerichts, immer wieder bricht ihm die Stimme weg. "Ich habe einen Fehler gemacht", sagt der Beamte am Freitag, dem zweiten Verhandlungstag des Mordprozesses nach dem Tod eines Obdachlosen.

Angeklagt ist ein 15-Jähriger, er soll sein Opfer in der Darmstädter Innenstadt zu Tode getreten haben.

Zwei Mal am Tatort

G. wirkt unsicher, keine Spur von Autorität und Selbstsicherheit, die Polizisten gewöhnlich ausstrahlen. Der 54-Jährige war einer der Beamten, die in der Nacht zum 15. November 2023 zwei Mal zum Tatort am Luisenplatz gerufen wurden. Eine Nacht, die ihn auch ein halbes Jahr später noch beschäftigt.

Vor dem ersten Einsatz hatte ein Augenzeuge eine Schlägerei gemeldet. Der Hauptkommissar und sein Kollege sind hingefahren, haben dort auch mit dem 15-Jährigen gesprochen. Nach Angaben des Polizisten hätten sie aber nichts Ungewöhnliches feststellen können und seien deswegen wieder weggefahren. Wenige Minuten später passierte der mutmaßliche Mord. 

Keine Entschuldigung möglich

Die Frage, die sich nicht wenige nach der Tat gestellt haben: Hätte die Polizei den Tod von Andreas N. verhindern können? "Ich mache mir schwere Vorwürfe", fährt G. im Zeugenstand fort, "ich habe versagt". Er hätte sich gerne bei Angehörigen für sein "persönliches Versagen" entschuldigt - aber es gab keine. 

Den Vorwurf, den sich G. macht: "Ich habe die Zeichen nicht erkannt und konnte Herrn N. somit nicht schützen." Wie man im Nachhinein weiß, gab es tatsächlich Anzeichen dafür, dass schon im Vorfeld des ersten Einsatzes nicht alles mit rechten Dingen zuging. 

Polizeieinsätze werfen Fragen auf

So ist laut Richter Marc Euler auf Videoaufzeichnungen zu sehen, dass die Geldbörse von Herrn N. direkt neben dem Streifenwagen auf dem Boden lag. Das hätte die Beamten stutzig machen können oder sogar als Hinweis auf den stattgefundenen Raub gedeutet werden können.  

Auch stellt der Richter die Frage, warum denn ein 15-Jähriger, der sich nach 2 Uhr nachts noch auf dem Luisenplatz herumtreibe, nicht nach Hause gebracht wurde. "Ich kann nicht alle 15-Jährigen einfangen und nach Hause schicken", antwortet der Hauptkommissar. Er sagt aber auch: “Hätte ich nur den Hauch eines Verdachts gehabt, hätte ich anders gehandelt." Hat er aber nicht. "Und deswegen mache ich mir Vorwürfe", erklärt der Polizist. 

Auch der zweite Einsatz wirft Fragen auf: Das Opfer lag nach Eintreffen der Polizei noch mehrere Minuten schwer verletzt am Boden, bevor der Rettungswagen eintraf. "Er hat noch geatmet. Ich habe keine Erste Hilfe geleistet, ich hätte auch nicht gewusst, wie", sagt der Hauptkommissar. Im weiteren Verlauf seiner Aussage gibt G. zu, "völlig überfordert" gewesen zu sein.  

Anklage sieht kein strafbares Fehlverhalten

Ob die Tat tatsächlich hätte verhindert werden können, lässt sich im Nachhinein wohl nicht mehr herausfinden. Die Anklage jedenfalls sieht kein strafbares Fehlverhalten bei der Polizei. "Wir konnten kein strafrechtlich relevantes Verhalten wie etwa unterlassene Hilfeleistung feststellen", sagt Staatsanwältin Elena Beyer. Sie gibt allerdings zu: "Das ist alles sehr unglücklich gelaufen." 

Auch wenn G. wohl keine juristischen Konsequenzen befürchten muss, hat das Geschehene bei ihm offenbar tiefe psychische Spuren hinterlassen. Der Tod von Andreas N. habe ihn so tief getroffen, dass er nur kurz darauf den aktiven Polizeidienst quittierte und nun ans Ordnungsamt abgeordnet ist, schildert der Hauptkommissar. Verarbeitet habe er das Geschehene bislang noch nicht. "So etwas habe ich in 30 Jahren Schichtdienst nicht erlebt." 

Zeugin: "Da war kein Gesicht mehr"

Folgt man den Schilderungen einer weiteren Zeugin, bekommt man einen Eindruck davon, wie außergewöhnlich brutal die Tat war. "Da war kein Gesicht mehr", beschreibt die Notfallsanitäterin, die zum Luisenplatz gerufen wurde, den Zustand des Opfers bei ihrem Eintreffen.  

Vier Minuten lang soll der 15-Jährige laut Anklage auf den Kopf und den Oberkörper des Obdachlosen eingeschlagen und -getreten haben, die Staatsanwältin sprach beim Prozessauftakt von “absolutem Vernichtungswillen”. Für die 25 Jahre alte Sanitäterin sei es ein “schockierender Einsatz” gewesen.  

Die Staatsanwaltschaft wirft dem 15-Jährigen Mord aus niederen Beweggründen vor. Auch gegen den 18 Jahre alten Bruder des mutmaßlichen Mörders wird in derselben Sache verhandelt - allerdings wegen Raubes. Die Brüder, die zuletzt in Roßdorf (Darmstadt-Dieburg) wohnten, haben zum Prozessauftakt beide ein Geständnis abgelegt. 

Bis zu 10 Jahre Haft möglich

Laut Anklage hatten sie den 57-jährigen Andreas N. am 15. November kurz nach 2 Uhr in der Nacht an einem Wartehäuschen überfallen. Sie schlugen auf ihn ein und raubten zwei Geldbörsen. Wenig später kehrte demnach der 15-Jährige zurück und schlug den sich nicht wehrenden Obdachlosen so brutal zusammen, dass er am nächsten Tag im Krankenhaus starb.

Dem Hauptangeklagten drohen nach Jugendstrafrecht bis zu 10 Jahre Gefängnis. Hinsichtlich des 18-Jährigen muss das Gericht entscheiden, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht angewandt wird. Für den Prozess vor der Jugendkammer sind drei weitere Verhandlungstermine angesetzt, das Urteil wird für Anfang Juli erwartet.

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