Folgenreicher Umzug Suhrkamp geht nach Berlin
Mitte Januar 2009 fing in Frankfurt die Gerüchteküche an zu brodeln: Der Suhrkamp Verlag, seit seiner Gründung 1950 in Frankfurt ansässig, wolle nach Berlin ziehen, hieß es - ein Schock für die Stadt und ihren Literaturbetrieb. Zunächst dementierte der Verlag.
Man habe eine "Einladung" samt einem Angebot des Berliner Senats, so Geschäftsführer Thomas Sparr, die noch geprüft werden müsse. Außerdem könne Inhaberin und Unseld-Witwe Ulla Unseld-Berkéwicz diese Entscheidung nicht allein treffen. Mitinhaber Joachim Unseld, Sohn von Großverleger Siegfried, war nach eigenen Angaben noch nicht einmal über die Berliner Einladung informiert, sein eigener Verlag, die Frankfurter Verlagsanstalt, ist in Frankfurt ansässig. Auch die Gesellschafter des Suhrkamp Verlages mussten einbezogen werden.
Erste Reaktionen
Am Anfang war ein Großteil der Suhrkamp Mitarbeiter – nach Angaben des Betriebsrates 80 % - gegen einen Umzug in die Hauptstadt; die unklare Haltung von Unseld-Witwe Ulla Unseld-Berkéwicz erboste die Angestellten. Sie warfen in einem offenen Brief der Chefin eine "katastrophale Kommunikationspolitik" vor. Dazu kamen Stimmen aus der Stadt: Der frühere Kulturdezernent Hilmar Hoffmann etwa fand den möglichen Umzug "pervers": Berlin werde von den anderen Ländern subventioniert, und im Umkehrschluss "ist es so, dass sie praktisch Geld aus Hessen dafür ausgeben, dass ein Verlag aus Hessen nach Berlin geht. Das nenne ich pervers." Auch der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien, Hans-Joachim Otto (FDP), schloss sich dieser Kritik an: "Es ist schlicht nicht akzeptabel, wenn das Land Berlin mit Mitteln aus dem Länderfinanzausgleich einen Subventionswettlauf zu Lasten hessischer Arbeitsplätze forciert."
Ende der Spekulationen
Am 6. Februar 2009 teilte der Verlag mit, er würde Anfang 2010 nach Berlin ziehen. Berlin knüpfe als Hauptstadt wieder da an, wo es nach 1945 zum Aufhören gezwungen wurde, sagte Suhrkamp-Chefin Ulla Unseld-Berkéwicz dem Magazin "Kulturzeit" des TV-Senders 3sat. "Außerdem ist es doch im Moment so: Die Lage politisiert sich bis tief hinein ins kulturelle Leben, da muss Suhrkamp vor Ort sein." Wie einst in den 60er Jahren Frankfurt sei heute "eben das Labor in Berlin". Zu Entlassungen werde es nicht kommen. Alle Mitarbeiter seien eingeladen, nach Berlin mitzukommen.
Der Entscheidung für den Umzug sei eine Einigung der zerstrittenen Verlags-Gesellschafter vorausgegangen. Die Unseld-Familienstiftung unter Vorsitz von Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz und die Winterthurer Medienholding AG hätten ihre Prozesse vor dem Landgericht Frankfurt durch einen Vergleich beendet. Teil der Einigung sei, dass die Unseld-Stiftung eine zeitlich befristete Möglichkeit zum Erwerb der Verlagsanteile der Medienholding habe. Diese Minderheitsanteile hält der Hamburger Unternehmer Hans Barlach. Er hatte sich zuvor ebenfalls für einen Umzug nach Berlin ausgesprochen.
Stadt bedauert Umzug
Während Berlin sich freute, Sitz des renommierten Verlages zu werden, sagte der Frankfurter Kulturdezernent Felix Semmelroth: "Ich bedauere den Entschluss der Leitung des Suhrkamp Verlags… Aufgrund der geistesgeschichtlichen Bedeutung des Verlags nicht nur für Frankfurt, sondern auch für die europäische Kultur insgesamt, hat die Stadt Frankfurt dem Verlag verschiedene substanzielle Vorschläge unterbreitet, die in wirtschaftlicher, kulturpolitischer und städtebaulicher Hinsicht sehr attraktiv sind und den vollständigen Verbleib des Verlags zum Gegenstand hatten."
Muschg wechselt Verlag
Einer der ersten, der auf die Entscheidung des Verlages reagierte, war der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, einer der prominentesten Autoren des Verlages. 35 Jahre lang hatte er seine Bücher bei Suhrkamp veröffentlicht und gehörte seit kurzem als einziger Schriftsteller dem Stiftungsrat des Verlages an. Der Beitrat sei nicht über den Umzug informiert worden, klagte Muschg. "Ich fühle mich nicht mehr zu Hause", so Muschg, der ab 2010 beim C.H. Beck Verlag veröffentlicht.
Im April kam es noch einmal zu einer Abstimmung unter den Mitarbeitern: Zwei Drittel entschieden sich, dem Verlag nach Berlin zu folgen, ein Drittel nahm das Abfindungsangebot des Verlages an. Gegen den Umzug klagte Mitgesellschafter Joachim Unseld, der Sohn des früheren Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld. Er hält 20 Prozent am Verlag und unterhält noch ein eigenes Verlagshaus in Frankfurt. Seine Klage werde nichts am Umzug nach Berlin ändern, erklärte daraufhin der Verlag.
Vor dem Umzug wird entrümpelt
Die nächste Schreckensnachricht ließ nicht lange auf sich warten: Im Mai hieß es, Suhrkamp wolle seine wertvollen Archive verkaufen, vermutlich, um den Umzug nach Berlin zu finanzieren. Zunächst dementierte der Verlag. Der Schätzwert der Archive liegt bei fünf bis sieben Millionen Euro, sie enthalten Manuskripte und Korrespondenzen berühmter Autoren wie Ingeborg Bachmann, Peter Handke, Martin Walser, Max Bord, Paul Celan, Hermann Hesse und Ricarda Huch. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hatte sein Interesse, die Archive als Ganzes oder in Teilen nach Marbach zu holen, angekündigt.
Diese Nachricht brachte die Frankfurter Goethe-Universität Frankfurt auf den Plan, denn auf der Grundlage eines zwischen Universität und Suhrkamp-Stiftung geschlossenen Vertrages befanden sich seit 2002 bereits Teile der Sammlung in archivarischer Betreuung der Universität. Der Vertrag war zwischen Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz und dem ehemaligen Universitätspräsidenten Rudolf Steinberg ausgehandelt worden und sah eine dauerhafte Verankerung des Archivs an der Goethe-Universität vor. Diese hatte bereits mehrere Publikationen veröffentlicht, so Ende 2008 der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer, der für erhebliches öffentliches Aufsehen sorgte. 2003 kam der Briefwechsel zwischen Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld heraus, 2006 zwischen Wolfgang Koeppen und Siegfried Unseld sowie eine Monografie über Hermann Hesse und den Suhrkamp-Verlag.
Vergebliche Bemühungen
Der Vertrag sah auch eine dauerhafte Verankerung des Archivs an der Goethe-Universität vor. Die Stadt Frankfurt nahm umgehend Verhandlungen auf, um mit Unterstützung des Landes Hessen und der Universität das Archiv in Frankfurt zu halten. Die Universität erklärte sich bereit, das Suhrkamp Archiv zu kaufen. Doch Ende Oktober stellte sich heraus, dass die Anstrengungen vergeblich waren: Marbach erhielt den Zuschlag. Beide Institutionen – Universität Frankfurt und Literaturarchiv Marbach – einigten sich auf eine Kooperation "zur Erschließung und Erforschung der Verlagsarchive Suhrkamp und Insel". Es sei "traurig", kommentierte Kulturdezernent Felix Semmelroth, "dass hier nicht dem Rat des großen Philosophen und Suhrkamp-Autors Jürgen Habermas gefolgt wurde, der gemahnt hatte, nicht alle Wurzeln des Verlags in Frankfurt zu kappen." Uni-Präsident Werner Müller-Esterl sagte, mit dem Suhrkamp-Archiv gehe Frankfurt ein großer intellektueller und kultureller Schatz verloren.
Ende der "Suhrkamp-Kultur"
Mitte Dezember begannen die Umzüge und waren bis Jahresende abgeschlossen – die des Verlages nach Berlin und die der Archive nach Marbach. Der Betriebsratsvorsitzende des Verlags, Wolfgang Schneider, fasste zusammen: "Inwieweit Berlin bessere Voraussetzungen für Suhrkamp bietet, muss man abwarten." Eines stand für ihn fest: „Der Verlag hat sich verändert." Genau darin sah Verlegerin Ulla Berkéwicz-Unseld den Vorteil ihrer Entscheidung: Sie wollte durch den Umzug eine "Synthese von alter und neuer Suhrkamp-Kultur."
Der Suhrkamp Verlag kam 2010 in Berlin an. Die Suhrkamp-Kultur jedoch, die Dominanz im intellektuellen Leben, war schon zuvor vergangen. Heute ist der Verlag ist nur noch einer unter Gleichen. Als der Verleger Siegfried Unseld einmal zurückblickte auf eine beeindruckende Erfolgsgeschichte, hatte er einen Wunsch: "Wenn die Verlagsgeschichte einmal geschrieben wird, dann würde ich mir wünschen, dass es hieße: Ja, wenn man die Titel Jahr für Jahr dieses Verlages sieht, so sind es Jahresringe, in denen zeitgenössisches Bewusstsein sich herangebildet hat." Lange Zeit ging dieser Wunsch in Erfüllung. Aber 60 Jahre nach Verlagsgründung ist die Realität eine andere.