Spektakuläre Ausstellung Neuer Blick auf Edvard Munch
Den "Schrei" kennt jeder, jenes weltberühmte Bild des norwegischen Malers Edvard Munch. Doch Munch war mehr als der "Bahnbrecher des Expressionismus", er war "ganz und gar modern". Dies hat die Schirn Frankfurt in einer großen Schau gezeigt.
Die Ausstellung "Edvard Munch. Der moderne Blick" war eine Kooperation zwischen dem Munch Museum in Oslo, dem Pariser Centre Pompidou und der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Zuvor war die Schau in Paris zu sehen und schlug dort - als sechstbeste Ausstellung des Centre Pompidou - fast sämtliche Besucherrekorde: knapp eine halbe Million Besuchern schauten sie sich an, das heißt im Schnitt 4.500 Besucher pro Tag. In Frankfurt gab Kronprinzessin Mette-Marit ihrem Landsmann die Ehre und eröffnete die Ausstellung, nachdem sie sich in das Goldene Buch der Stadt eingetragen hatte.
Anders als sonstige Munch-Ausstellungen befasste sich diese Schau vornehmlich mit dem Spätwerk des Malers Edvard Munch, der 1863 in Løten in der norwegischen Provinz Hedmark geboren wurde und 1944 auf seinem Anwesen Ekely starb.
Dieser "andere" Blick auf das Werk des Malers zeigte, dass sich Munch in den späteren Jahren seines Lebens intensiv mit den damals neuen Medien Fotografie und Film befasste und, so die Schirn, "in welchem Maß er spezifisch fotografische oder filmische Kompositions- und Erzählformen, Posen und selbst Effekte in seine Malerei" übernommen hatte.
Um diese These der Ausstellung zu belegen, waren rund 60 Gemälde und 20 Arbeiten auf Papier zu sehen, darunter natürlich auch berühmte Werke wie der "Kuss" oder "Vampir" - aber in verschiedenen Versionen, zwischen denen manchmal Jahrzehnte liegen.
Serielle Produktion
Denn Munch hat in seinem Spätwerk Themen seiner früheren Arbeiten wieder aufgenommen und variiert: Dieses Arbeiten in Serie gilt als eines der Indizien für "Modernität": So schuf Munch etwa sechs Versionen von "Das kranke Kind", sieben von "Mädchen auf der Brücke" und zehn von "Vampir".
Daneben wurden 50 Fotografien Munchs in Originalabzügen und fünf Filme, die Munch gedreht hat, gezeigt, darunter auch ein Film, auf dem Munch während eines Urlaubs einen sehr künstlerischen Filmblick auf Dresden wirft.
Neugierig auf das Neue
Die Ausstellung widersprach der gängigen Auffassung, Munch habe sich in seinem letzten Lebensdrittel auf sein Landhaus Ekely zurückgeztogen und beinahe wie ein Eremit gelebt. Nein, denn Munch kaufte sich 1902 eine Fotokamera und experimentierte, schoss Fotos von Gemälden und Orten, aber auch von sich selbst - mit einer ähnlichen Haltung, wie heutzutage vor allem Jugendliche sich selbst mit ihren Handy-Kameras fotografieren. Er kaufte sich 1927 eine Filmkamera und versuchte sich in diesem damals neuen Medium. Er wurde zum leidenschaftlichen Kinogänger - wobei er bei der Beurteilung der gezeigten Streifen auf die gebellte Einschätzung seines Hundes Fips vertraute -, las Illustrierte und interessierte sich für Naturwissenschaften - dies alles, um neue Erkenntnisse und Techniken für sein Werk zu adaptieren. Und um auch für sich die Frage der Reproduzierbarkeit von Kunst zu beantworten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur Künstler, sondern auch Philosophen wie Walter Benjamin ("Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", 1935-1939) beschäftigte.
Leben mit dem Schmerz
Edvard Munchs Leben war schon früh von Krankheit, Tod und Schmerz geprägt. Dies hat er in seinen Bildern immer wieder festgehalten. Seine Mutter starb 1868 an Tuberkulose, gerade mal 33 Jahre alt, Munchs selbst erst fünf. Als er 14 Jahre alt war, erlag seine ältere Schwester Sophie der "Schwindsucht". Munch selbst litt unter einer chronischen manisch-depressiven Störung.
Munch fand auf einem Umweg zur Kunst: Auf Wunsch des Vaters ging er 1879 an die Universität von Kristiania, dem heutigen Oslo, um Ingenieurswissenschaften zu studieren, doch schon ein Jahr später erhielt er die Zulassung für die Königliche Zeichenschule. Er reiste mehrmals nach Paris, lernte die Impressionisten kennen, mit deren Stil er aber 1885 brach. 1889 starb sein Vater, und Munch fiel in eine tiefe Depression. Seine Erlebnisse und die emotionalen Tumulte, die sie in dem empfindsamen Menschen hervorriefen, "verarbeitete" Munch in Metaphern und Bildformeln, die ihn seinen Stil finden ließen und die ihn zum Wegbereiter des Expressionismus machten.
Den "Schrei" kennt jeder, jenes weltberühmte Bild des norwegischen Malers Edvard Munch. Doch Munch war mehr als der "Bahnbrecher des Expressionismus", er war "ganz und gar modern". Dies hat die Schirn Frankfurt in einer großen Schau gezeigt.
Internationaler Erfolg
Der norwegische Maler hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend Erfolg in Europa, lebte zum Teil in Paris und Berlin. Doch er trank zu viel, um mit seinen psychischen Konflikten wirklich fertig werden zu können. 1908 brach Munch zusammen und wurde monatelang behandelt. Danach ging er wieder zurück nach Norwegen.
1912 hatte Munch seinen internationalen Durchbruch: Auf der legendären Sonderbund-Ausstellung in Köln wurde er - neben Paul Cézanne, Vincent van Gogh und Paul Gauguin - in einem eigenen Saal mit mehr als 30 Gemälden als Wegbereiter der Moderne gewürdigt.
Experimentierfreude in der Abgeschiedenheit
1916 kaufte Munch das Anwesen Ekely unweit von Oslo. Er lebte dort zurückgezogen, war aber technologischen Neuerungen und modernen Strömungen gegenüber aufgeschlossen, fing an, damit zu experimentieren, wie zum Beispiel mit dem Medium Film. Im Jahr 1930, im Alter von 66 Jahren, führte eine Blutung im Glaskörper des rechten Auges zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Sehvermögens von Munch. Doch auch in diesem Sinne expermientierte Munch: Er zeichnete sein Leiden beziehungsweise das, was er sah. Seine Wahrnehmungsstörung wird als "entoptischen Wahrnehmung" bezeichnet. Das sind visuelle Phänomene, die Strukturen unserer eigenen Augen erkennen lassen. Es handelt sich in diesen Fällen nicht eigentlich um "optische Täuschungen", da die entoptischen Bilder eine anatomische Ursache haben.
Am 23. Januar 1944 starb Edvard Munch in Ekely im Alter von 81 Jahren.