Nachruf Marcel Reich-Ranicki ist tot

Er war literarischer Taktgeber, Tonsetzer, Notenverteiler, Dirigent und Dompteur. Keiner hat für die Literatur so gelitten, gestritten und getrommelt wie er. Dafür wurde er geliebt und gehasst. Aber immer gehört. Marcel Reich-Ranicki ist am 18. September im Alter von 93 Jahren gestorben.

Marcel Reich-Ranicki
Marcel Reich-Ranicki Bild © picture-alliance/dpa
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Marcel Reich-Ranicki ist tot

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Der Literaturkritiker und Autor Marcel Reich-Ranicki ist tot. Er ist am Mittwoch im Alter von 93 Jahren in Folge einer Krebserkrankung in einem Pflegeheim gestorben. Dies erfuhr hr-online aus dem Umfeld der Familie. Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, bestätigte dies via Twitter. 

Marcel Reich-Ranicki wird am 26. September auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beigesetzt. Die Trauerfeier beginnt um 15 Uhr, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" der Nachrichtenagentur dpa mitteilte. 

Flucht aus dem Ghetto 

Seine Heimat war die Literatur, sein Leben das Schreiben und Streiten für Literatur. Marcel Reich-Ranicki wurde 1920 geboren. In Berlin besuchte er das Gymnasium: "Schon in der Schule hat mir ein Deutschlehrer vorausgesagt, dass ich Kritiker sein werde: Aus dir wird ein Kritiker werden." 

Doch die nationalsozialistischen Rassengesetze verwehrten dem hochbegabten Abiturienten das Studium. Er wurde nach Polen ausgewiesen und in das Ghetto von Warschau gezwungen. Kurz vor der Deportation gelang Marcel Reich-Ranicki und seiner Frau Teofila die Flucht aus dem Ghetto. Reich-Ranickis Eltern wurden nach Treblinka deportiert und ermordet: "Ich sagte ihnen, wo sie sich anstellen mussten. Mein Vater blickte mich ratlos an, meine Mutter erstaunlich ruhig. Ich wusste, dass ich sie zum letzten Mal sah."

Arbeit für den Geheimdienst

Wie er die Nazi-Zeit überlebt und wie ihm die Literatur, das Reden, das Memorieren von Literatur dabei geholfen haben, das hat Marcel Reich-Ranicki später in seiner bewegenden Autobiographie "Mein Leben" geschildert. Darin ist auch nachzulesen, wie er nach dem Krieg für den polnischen Geheimdienst in London arbeitete, schließlich wegen ideologischer Entfremdung aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde und sich in Warschau als Lektor und Übersetzer durchschlug.

Worte, vielleicht auch Gedanken

Im Sommer 1958 siedelt er in die Bundesrepublik über, nahm den Namenszusatz Ranicki hinzu und eroberte sich mit Artikeln in ZEIT und WELT rasch einen Ruf als kundiger wie scharfzüngiger Literaturkritiker. 1973 wurde er Literaturchef in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 

Kaum im Ruhestand, gab der Literaturpapst beim ZDF den Gastgeber der Fernsehsendung Das literarische Quartett: "Meine Damen und Herren", begrüßte er die Zuschauer, "dies ist keine Talkshow. Was wir Ihnen zu bieten haben ist nichts anderes als Worte, Worte, Worte. 75 Minuten lang Worte und, wenn’s gut geht, das ist ein Ziel aufs Innigste zu wünschen, vielleicht auch Gedanken. Wir werden über Bücher sprechen und über Schriftsteller, also nichts anderes als Literatur."

"Ich habe mein ganzes Leben lang mich mit Literatur beschäftigt. Ich habe immer wieder versucht, die Literatur lesbar zu machen für ein möglichst großes Publikum. Es ist keine einfache Sache, deutsche Literatur lesbar zu machen. Es sind sehr unterschiedliche Autoren. Aber ich habe alles getan, weil es mir Spaß gemacht hat und weil ich einfach diesen Erfolg auch erlebte, den Erfolg, das zu machen, was mir gefällt." - Marcel Reich-Ranicki, o.D.

Eklat um Preisverweigerung

Mit dem "Literarischen Quartett" lieferte Marcel Reich-Ranicki den Beweis, dass das schiere Reden über anspruchsvolle Literatur hohen Unterhaltungswert haben kann. Literatur und Lyrik für ein breites Publikum zu erschließen, das bleibt das Verdienst von Marcel Reich-Ranicki. Und dafür hat er viele, viele Preise und Auszeichnungen bekommen. Der Kritiker, dem die Nazis das Studium verweigerten, trug später die Ehrendoktorwürde der Universitäten in Berlin, Düsseldorf, München, Augsburg, Bamberg, Uppsala und Utrecht. 

Einen Preis allerdings, den wollte er nicht annehmen: "Meine Damen und Herren, ich habe in meinem Leben viele Literaturpreise bekommen und ich habe immer gedankt für diese Preise, wie es sich gehört. Und bitte verzeihen Sie mir, wenn ich offen rede: Ich nehme diesen Preis nicht an." 

Mit der Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises vor laufender Kamera sorgte der hochbetagte Literaturkritiker im Jahre 2008 für einen Eklat und eine längst breite Diskussion über die Qualität des Fernsehens.

Staatsoberhaupt der literarischen Republik

Marcel Reich-Ranicki war kein Kritiker des Einerseits-Anderseits, des Abwägens und des ausgewogenen Urteils. Er war entweder für oder gegen ein Buch, aber immer auf der Seite des Autors. Als Literaturpapst wurde Marcel Reich-Ranicki geehrt wie gefürchtet. Er mochte diesen Titel nicht. Zu seinem 90. Geburtstag verlieh ihm Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ, hingegen staatsmännische Weihen: "Von Ihrem Amt als Repräsentant des literarischen Lebens in diesem Land sind Sie nie zurückgetreten, auch nicht in der FAZ. Es ist gut, sage ich, dass er, der von der Literatur als seinem portativen Vaterland spricht, dass er das Staatsoberhaupt der literarischen Republik ist. 

Mit seiner Leidenschaft für die Literatur, mit seiner notorischen Streitlust und seinen scharfen, prägnant formulierten Urteilen hat Marcel Reich-Ranicki das literarische Leben in Deutschland geprägt und bestimmt. Seine Unbestechlichkeit und seine Entschiedenheit für die Literatur hat Maßstäbe gesetzt. Seine Stimme wird fehlen. 

Quelle: hessenschau.de

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