100 Tage nach dem rassistischen Terror Der Anschlag von Hanau - eine Chronologie
Am Anfang standen Berichte über eine "Schießerei" in Hanau. Am Ende stellten sich die Schüsse als rassistischer Terroranschlag heraus. hessenschau.de zeichnet die Ereignisse vom 19. und 20. Februar nach.
Als am späten Abend des 19. Februar die ersten Meldungen aus Hanau die Runde machen, denken viele zunächst an einen Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität. Das Wort "Schießerei", das zu diesem Zeitpunkt auch von der Polizei verwendet wird, legt einen Schusswechsel nahe, vielleicht eine Abrechnung zwischen rivalisierenden Banden.
Im Laufe der Nacht wird zunächst das Ausmaß der Tat bekannt: Elf Tote, darunter der mutmaßliche Täter. Am Morgen des 20. Februar sickert schließlich durch, dass der Täter aus rassistischen Motiven handelte - und die Augen der Weltöffentlichkeit richten sich auf Hanau.
hessenschau.de gibt einen chronologischen Überblick über die Ereignisse jener Nacht.
MITTWOCH, 19. Februar 2020
Gegen 21.50 Uhr: Der aus Hanau-Kesselstadt stammende Tobias R. steuert die Bar "La Votre" und die Shisha-Lounge "Midnight" am Hanauer Heumarkt an und eröffnet das Feuer aus zwei Schusswaffen, die er ganz legal besitzt. Beide Lokale werden vorwiegend von Menschen mit Migrationshintergrund besucht. Drei Menschen sterben im Kugelhagel: Kaloyan Velkov, der im "La Votre" arbeitet, Fatih Saraçoğlu, der Tobias R. auf der Straße über den Weg läuft und Sedat Gürbüz, Eigentümer des Midnight.
21.53 Uhr: Die Überwachungskamera einer Bar fängt ein, wie Attentäter Tobias R. vom Tatort flüchtet. Dabei scheint er einen Schuss auf ein sich ihm näherndes Fahrzeug abzufeuern. Möglicherweise handelt es sich um das Auto des später ebenfalls ermordeten Vili Viorel Păun.
21.58 Uhr: Die Polizei in Hanau erhält eigenen Angaben zufolge Kenntnis von den Schüssen am Heumarkt. Einsatzkräfte der Polizeistation Hanau I treffen binnen zwei Minuten am Tatort ein und beginnen mit der Erstversorgung der Verwundeten und der Fahndung nach dem Täter.
Gegen 22 Uhr: Tobias R. erreicht in seinem Fahrzeug den Kurt-Schumacher-Platz in Hanau-Kesselstadt. Auf dem Parkplatz vor einem Wohnblock erschießt er vermutlich zunächst Vili Viorel Păun. Indizien legen den Schluss nahe, dass der 22-Jährige den Attentäter verfolgt hat.
Kurz darauf stürmt Tobias R. in das im Erdgeschoss des Wohnblocks gelegene "Arena Bar & Café", ein Lokal mit angeschlossenem Kiosk. Im Kiosk tötet er zunächst Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz und Ferhat Unvar. Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović werden im Bereich der Bar erschossen.
22.05 Uhr: Die ersten Notrufe vom Kurt-Schumacher-Platz gehen bei der Polizei ein. Einsatzkräfte der Polizeistationen Hanau I und II sowie der Polizeistation Groß-Auheim werden zum Tatort beordert.
22.09 Uhr: Die Einsatzkräfte treffen am Kurt-Schumacher-Platz ein. Darunter befindet sich auch ein Notinterventionsteam - taktisch geschulte und mit spezieller Schutzausrüstung ausgestattete Polizisten, die den Täter stellen und im Zweifel töten sollen. Tobias R. allerdings hat den Tatort bereits wieder verlassen. Derweil erreichen die Polizei Meldungen über angebliche Schüsse im Hanauer Stadtteil Lamboy sowie in der Nachbarstadt Bruchköbel. Diese stellen sich als Fehlalarm heraus.
22.50 Uhr: Nach Hinweisen aus der Bevölkerung gelingt es der Polizei, einen Pkw, den Zeugen an beiden Tatorten gesehen haben, Tobias R. zuzuordnen. Sie finden den Wagen schließlich unweit des Wohnhauses des Attentäters.
Polizisten in Zivil beginnen daraufhin mit der Observation des Wohnhauses. Dadurch allerdings ziehen sie den Unmut des örtlichen Ablegers der Hells Angels auf sich. Die Rocker gehen fälschlicherweise davon aus, dass die Beschattung ihnen gilt und behindern die Polizei massiv. Sechs Mitglieder der Gruppe werden schließlich festgenommen.
23.00 Uhr: Die ersten Medien greifen die Geschehnisse in Hanau auf. Bei den meisten - auch beim hr - wird das Attentat noch als "Schießerei" bezeichnet. Lokale Nachrichtenportale aus Hanau sprechen unter Berufung auf Augenzeugen von "mehreren Tätern" und "Schüssen aus einem fahrenden Auto".
Gegen 23.30 Uhr: In Hanau-Kesselstadt werden verschiedene Szenarien für das weitere Vorgehen der Polizei erörtert. Diskutiert werden sowohl die Möglichkeit, Tobias R. zur Aufgabe zu bewegen, als auch eine Erstürmung des Hauses.
DONNERSTAG, 20. FEBRUAR 2020
0.00 Uhr: Der hr vermeldet bei hessenschau.de und in seinen Hörfunkwellen "mehrere Tote" nach einer "Schießerei" in Hanau.
0.18 Uhr: Das Polizeipräsidium Südosthessen veröffentlicht eine erste Pressemitteilung. Darin ist ebenfalls von einer Schießerei in der Innenstadt und am Kurt-Schumacher-Platz die Rede. Die Polizei vermeldet noch keine Todesfälle - jedoch mehrere Schwerverletzte. Nach dem Täter werde noch gefahndet.
0.35 Uhr: Die Bild-Zeitung beginnt im Internet mit einer Live-Sondersendung zu den Gewalttaten in Hanau. Die Sendung wird später in die Kritik geraten, weil die Bild-Reporter vor Ort unter anderem über eine "Milieutat" spekulieren, für die möglicherweise Russen verantwortlich zeichnen. Einen rechtsextremen Hintergrund halten die Reporter für unwahrscheinlich.
0.49 Uhr: In einer weiteren Pressemitteilung bestätigt das Polizeipräsidium Südosthessen, dass es in Hanau acht Tote gegeben haben soll. Noch immer ist von einer Schießerei die Rede. Zu den Hintergründen liegen noch keine Erkentnisse vor. Ein Großaufgebot der Polizei sperrt derweil den Tatort am Heumarkt großräumig ab. Die Spurensicherung trifft vor Ort ein. Ein Polizeihubschrauber kreist über dem Gebiet.
1.01 Uhr: Das für sogenannte "Sonderlagen" zuständige Polizeipräsidium Frankfurt übernimmt die Einsatzführung.
2.43 Uhr: Am Tatort in Kesselstadt laufen die kriminaltechnischen Untersuchungen. Die Mercedes-Limousine von Vili Viorel Păun wird mit Rettungsdecken und später auch mit einem Feuerwehrzelt abgeschirmt. Die Polizei sperrt den Bereich weiträumig ab. Schwer bewaffnete Beamte sichern ihn.
3.00 Uhr: Der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) äußert sich erschüttert über die Gewalttaten. "Das war ein furchtbarer Abend, der wird uns sicherlich noch lange, lange beschäftigen und in trauriger Erinnerung bleiben", sagt er.
3.03 Uhr: Ein Spezialkommando dringt in das Wohnhaus von Tobias R. ein. Die Beamten gehen äußerst vorsichtig vor, da nicht auszuschließen ist, dass der Attentäter das Gebäude mit Sprengfallen präpariert hat. Der Einsatz zieht sich eine gute Stunde hin. Im Gebäude finden sie die Leichen von Tobias R. und seiner Mutter. Offensichtlich hatte der Attentäter zuerst die 72-Jährige und dann sich selbst erschossen.
5.55 Uhr: Per Pressemitteilung informiert das Polizeipräsidium Südosthessen darüber, dass die Leiche des mutmaßlichen Täters in seinem Wohnhaus aufgefunden wurde. Erstmals ist davon die Rede, dass an den Tatorten Heumarkt und Kurt-Schumacher-Platz neun Menschen erschossen wurden.
6.19 Uhr: Die ersten Reaktionen aus der Politik treffen ein. Auf Twitter zeigt sich der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, erschüttert von den Geschehnissen der Nacht.
7.30 Uhr: Aus Sicherheitskreisen wird bekannt, dass ein Bekennerschreiben und ein Video gefunden wurden. Der Clip, der zu dem Zeitpunkt noch im Internet zu sehen ist, wurde erst vor wenigen Tagen ins Netz gestellt. Im Video und in den hinterlassenen Pamphleten beschreibt der Attentäter eine Wahnwelt, in der er seit frühester Kindheit von Geheimdiensten verfolgt wird. Zugleich enthalten die Dokumente Hinweise auf ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. R. spricht beispielsweise davon, dass sich bestimmte "destruktive Völker" als "nicht leistungsfähig" erwiesen hätten und daher ausgerottet gehören.
8.27 Uhr: Die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe teilt mit, dass sie noch in der Nacht die Ermittlungen übernommen hat. Damit wird klar, dass die Sicherheitsbehörden einen Terroranschlag in Betracht ziehen.
9.30 Uhr: Innenminister Peter Beuth (CDU) bestätigt im Wiesbadener Landtag den Terrorverdacht und dass von einem rechtsextremen Hintergrund der Tat ausgegangen wird. Das Landesparlament bricht nach einer Gedenkminute für die Opfer seine Sitzung ab.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 29.05.2020, 19.30 Uhr