175 Jahre Paulskirchenversammlung Warum Geflüchtete in Hessen Demokratie so wertschätzen
Zum Paulskirchenfest feiert ganz Deutschland seine Demokratie. Aber worin liegt eigentlich deren Wert? Besonders zeigen das die Geschichten von Menschen, die aus unfreien Ländern nach Hessen geflohen sind.
Vor 175 Jahren hat in der Frankfurter Paulskirche die Deutsche Nationalversammlung zum ersten Mal über eine freiheitliche Verfassung für Deutschland beraten. Zum Jubiläum der Geburtsstunde der deutschen Demokratie berichten Menschen, die aus dem Iran, Äthiopien, Afghanistan, Syrien und der Ukraine nach Hessen geflüchtet sind, wie viel ihnen die Freiheit hier bedeutet - und was es heißt, in einem Land zu leben, in dem demokratische Rechte nicht oder nur eingeschränkt vorhanden sind.
Mekbib Tilaneh: "Hier werden Menschenrechte respektiert"
Der 36 Jahre alte Mekbib Tilaneh flüchtete vor rund sieben Monaten aus Äthiopien nach Deutschland und lebt jetzt in Bad Nauheim (Wetterau).
"Ich glaube, das Hauptziel einer Demokratie ist es, die Menschenrechte und die demokratische Teilhabe zu schützen. In meiner Heimat Äthiopien sind beide Rechte in der Verfassung beschrieben. Sie werden in der Praxis aber nicht gelebt, weil es ein diktatorisches Regime gibt.
Beispielsweise steht in der Verfassung, dass jeder Gedanken- und Meinungsfreiheit hat. Aber wenn jemand die Regierung öffentlich kritisiert, zum Beispiel auf Facebook oder Youtube, dann kommt die Person ins Gefängnis.
Hier in Deutschland sehe ich, dass die Menschenrechte im Vergleich zu meinem Heimatland respektiert werden. Obwohl es einige, wenige Probleme gibt, haben die Menschen Freiheit. Sie sind frei zu lernen, frei zu arbeiten, frei, ihre Gedanken auszudrücken.
Ich war in meinem Heimatland Lehrer an einer Uni, aber mit meiner Meinung und meinen Gedanken konnte ich mich dort nicht frei äußern. Hier in Deutschland kann ich das."
Negah Amiri: "Hier bin ich frei - wie es Menschen überall auf der Welt sein sollten"
Negah Amiri ist eine deutsche Comedienne und Moderatorin. Die heute 29-Jährige floh 2004 zusammen mit ihrer Familie aus dem Iran.
"Ich hätte tatsächlich im Iran nie so sprechen können wie in Deutschland. Das sage ich auch immer wieder am Ende meiner Show, dass das, was ich hier mache, in meiner Heimat einfach verboten wäre. Ich würde dafür ins Gefängnis kommen.
Die Demokratie heute macht viele Versprechungen, aber das Handeln fehlt mir an vielen Punkten. Zum Beispiel in Bezug auf die Proteste im Iran. Es gab viele Worte, aber die Taten waren ziemlich zäh. Handeln ist das, was mir oft fehlt. Vor allem wenn es um Gruppen geht, die Hilfe brauchen.
Das Schönste an der Demokratie ist: Ich komme raus und ich kann tragen, was ich will, kann sagen, was ich will, ich kann auf die Bühne gehen. Ich bin frei. Das ist eine Freiheit, die für jeden Menschen auf der Welt Normalität sein sollte. Das ist für mich Demokratie.
Dass wir das hier erleben, dafür müssen wir dankbar sein. Gleichzeitig müssen wir wissen, dass das nicht überall der Fall ist. Das Bewusstsein dafür fehlt mir in Deutschland oft."
Jaber Jamiulahmadi: "Hier dürfen Frauen arbeiten und studieren"
Jaber Jamiulahmadi aus Afghanistan ist 20 Jahre alt und lebt seit etwa einem Jahr in Deutschland.
"Es spielt keine Rolle, wo ich bin - Demokratie ist für mich immer sehr wichtig. Aber in Afghanistan gab es Demokratie nur auf dem Papier, es war keine echte Demokratie.
Jetzt gerade ist die Situation in Afghanistan noch schlechter als vorher. Jetzt sind dort die Taliban an der Macht. Als ich etwa 13 Jahre alt war, hat meine Mutter noch als Rechtsanwältin gearbeitet. Mittlerweile darf keine Frau mehr in so einem Beruf arbeiten.
Frauen dürfen auch nicht mehr zur Schule oder zur Uni gehen. In Afghanistan darf man außerdem keine Meinung über Politik haben. Wenn man etwas dazu sagt, kann man nicht überleben.
Aber hier in Deutschland kann man Demokratie ganz genau sehen, hier gibt es Grundrechte. Hier dürfen Frauen arbeiten und studieren. Jeder darf seine eigenen Entscheidungen treffen und kann sich zum Beispiel einer politischen Partei anschließen."
Anastasiia Koliesnik: "Hier ist Sicherheit"
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verließ die heute 19 Jahre alte Anastasiia Koliesnik ihre Heimat. Vor acht Monaten kam sie nach Hessen.
"Ich kann sehr deutlich die Unterschiede zwischen der Demokratie hier in Deutschland und in meiner Heimat, der Ukraine, sehen. Nachdem die Sowjetunion zerfallen war, gab es in der Ukraine noch immer Probleme.
Wir hatten noch immer ein System, in dem viel Geld in Propaganda geflossen ist, in dem es Korruption und Oligarchie gab: Sehr reiche Menschen machten Profit zugunsten ärmerer Menschen. Die Menschen haben angefangen, gegen das System anzukämpfen, weil sie nicht dieses Post-Sowjetunion-Leben führen wollten.
Aber es ist wirklich schwierig, denn das System ist nicht in ein paar Jahren, sondern in vielen Jahrzehnten aufgebaut worden. Ich wünsche mir, dass mein Land der EU beitritt. Weil wir aus diesem Einfluss herauskommen wollen, der uns so lange bestimmt hat.
In Deutschland kann man frei sagen, was man denkt. Man kann eine gute Bildung genießen, man kann zur Uni gehen, es gibt soziale Angebote - zum Beispiel Hilfen, um Arbeit zu finden. Ich glaube, es gibt generell so viel mehr Hilfe, wenn man ein Problem hat. Außerdem ist hier Sicherheit - und mein Land wurde angegriffen."
Abdusalam Alhasme alias Salam: "Hier kann man Karikaturen veröffentlichen - ohne Angst"
Bis zu seiner Flucht aus Syrien im Jahr 2020 arbeitete der 50 Jahre alte Salam als selbstständiger Grafikdesigner in Damaskus. Seine Frau und seine Kinder leben noch dort. Kürzlich waren Salams Karikaturen in der Wetzlarer Stadtbibliothek zu sehen.
"Es gibt in Syrien ein großes Problem mit Sicherheit und Freiheit. Karikatur hat mich dort schon interessiert. Aber dort konnte ich politische Dinge nie direkt kritisieren, sonst wäre ich ins Gefängnis gekommen. Sich politisch zu engagieren, ist schwierig bis unmöglich.
Auch in Deutschland habe ich gezögert, meine Erfahrungen aus der Flüchtlingsunterkunft zu zeichnen. Ich dachte, dass man mich vielleicht wieder aus Deutschland rausschmeißt, wenn ich etwas Kritisches über das Camp zeichne. Die Reaktionen waren aber durchweg positiv.
Meine Hoffnungen in die deutsche Demokratie haben sich also erfüllt - und es freut mich sehr, wie sehr sich die Menschen hier für Kunst interessieren."
Asemaneh Rabiei: "Selbst hier kann ich nicht ganz für mich entscheiden"
Asemaneh Rabiei ist 39 Jahre alt und lebt in Hessen. Ihre Familie ist noch im Iran.
"Demokratie spielt in meinem Heimatland keine Rolle. Es ist dort wirklich eine Diktatur. Deswegen habe ich Angst und kann auch hier nicht über alles sprechen. Aber ich möchte gerne über die Frauen in meinem Heimatland sprechen.
Sie können dort nicht einfach leben. Sie können nicht wählen, ob sie einen Hijab tragen möchten. Wenn sie zum Beispiel eine wichtige Reise haben, muss es die Erlaubnis ihres Mannes geben.
Für mich bedeutet das: Ich lebe jetzt in Deutschland, aber wenn ich in mein Heimatland gehen würde, könnte mein Mann mir einfach verbieten, zurück nach Deutschland zu gehen.
Mein Herz ist immer gebrochen, weil ich nicht weiß, ob ich eine Chance habe, meine einsamen, alten und kranken Eltern wiederzusehen. Ich denke immer: Warum kann ich nicht für mich selbst entscheiden?"
Protokolle: Pia Stenner, Sonja Fouraté, Danijel Majic
Sendung: hr-fernsehen, hauptsache kultur, 18.05.2023, 22.30 Uhr
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