20 Jahre danach Wie der Frankfurter Nunzio Esposito den Tsunami 2004 überlebte

Vor 20 Jahren forderte der Tsunami im Indischen Ozean 230.000 Todesopfer. Der Frankfurter Nunzio Esposito überlebte die Katastrophe, verlor aber geliebte Menschen. Heute sagt er: Die Tragödie war seine Lektion - und ein nicht gewolltes Geschenk.

Nunzio Esposito
Nunzio Esposito hat den Tsunami 2004 überlebt Bild © hr

Als Nunzio Esposito bis zu den Knien im Meer steht, versteht er, dass seine Lebensgefährtin tot ist. Der Tsunami ist ein paar Tage her, die Suche erfolglos. Das Wasser ist an Land gekommen und hat alles verändert, hat Angst hinterlassen, wo vorher Gewissheiten waren.

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Tsunami-Überlebende aus Hessen

Eine zerstörte Hotelanlage auf der thailändischen Insel Ko Phi Phi nach dem Tsunami 2004
Bild © dpa
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Also steht Esposito im Wasser, das noch immer unruhig wirkt, wie aufgewühlt über das eigene Tun. Und fragt: "Dinah, sag mir doch, ob du noch lebst oder gestorben bist. Gib mir ein Zeichen." In dem Moment trifft ihn eine Welle härter als die anderen, so erzählt er. Und er hat Gewissheit.

Am 26. Dezember jährt sich der Tsunami im indischen Ozean zum 20. Mal. Ein Jahrhundertereignis, das drittstärkste je gemessene Erdbeben, 230.000 Menschen verloren ihr Leben, 100.000 wurden verletzt, 1,7 Millionen obdachlos. Mittendrin: Nunzio Esposito, damals Personal Trainer aus Frankfurt.

"Eigentlich wollten wir nach Mexiko, meine Lebensgefährtin Dinah war Halb-Mexikanerin. Aber wir haben uns dagegen entschieden", sagt er, 57 Jahre alt, graumeliertes Haar, offener Blick. "Dann schlugen uns Freunde vor, mit Ihnen nach Thailand zu fliegen. Das haben wir getan, am 12. Dezember. Es war ein schöner Urlaub. Bis dahin."

"Ich sollte wohl nicht wach sein"

Bis dahin, das meint den Morgen des 26. Dezember. Um 7:58 Uhr Ortszeit bebt die Erde 85 Kilometer vor der Küste Sumatras. Die Welle, die entsteht, trifft die Menschen unvorbereitet. Auf Amateurfilmen sieht man einen weißen Streifen am Horizont, verwackelt, körnig, unscheinbar. Menschen stehen am Strand und sehen dem Tod ins Auge, ohne dass sie es wissen. Vor allem in Thailand sterben auch viele Touristen aus Deutschland, darunter auch viele aus Hessen.

Esposito hat Glück. Der Sportler verzichtet an diesem Tag auf seine morgendliche Sportroutine. "Im Normalfall wären mein Freund Kevin und ich beim Ausbruch des Tsunamis am Strand gewesen. Aber an diesem Tag sollte ich wohl nicht wach sein. Ich habe den Tsunami verschlafen", sagt er.

"Nunzio, du musst runterkommen. Es ist etwas passiert."

Erst das Telefon weckt ihn, sein Zimmer liegt im vierten Stock der Hotelanlage. "Nunzio, du musst runterkommen. Es ist etwas passiert", schreit Kevin ins Telefon. Aber Esposito legt auf, was soll schon sein? Wenig später hämmert der Freund mit den Fäusten gegen die Tür, erinnert er sich, im Hintergrund schreien die Hotelbediensteten. Und es wird klar, dass tatsächlich etwas passiert ist.

"Ein Orkan", denkt Esposito zunächst, als er auf die Straße tritt. Die Welle hat sich zurückgezogen, im allgemeinen Chaos gehen die Freunde zum Strand, überall Schutt, überall Treibgut, weinende Menschen, dann sehen sie die ersten Leichen.

"Als wir ins Tal sahen, war von Khao Lak nichts mehr übrig"

Zu diesem Zeitpunkt ist die Gruppe schon getrennt, irgendwo an einem anderen Ende dieses Wassers ein ungewisses Schicksal der Freunde. Esposito und sein Freund Kevin sind in Phuket geblieben. Die anderen vier, darunter Espositos Lebensgefährtin, sind nach Khao Lak gereist, um einen Kochkurs zu machen. Dorthin brechen sie auf, um nach den Freunden zu suchen.

Die Bilder aus dem TV lassen nichts Gutes ahnen, die Realität ist noch schlimmer. "Rechts standen die Übertragungswagen der TV-Sender, links kamen uns Pickup-Trucks mit Leichen auf den Ladeflächen entgegen. Als wir ins Tal sahen, war von Khao Lak nichts mehr übrig. Eine einzelne Moschee war stehen geblieben, ansonsten: nichts."

Ein THW-Retter sucht nach dem Tsunami in den Trümmern eines Hotels bei Khao Lak in Thailand nach Überlebenden.
Weite Teile von Khao Lak lagen nach dem Tsunami in Trümmern. Bild © picture-alliance/dpa (Archiv)/Rungroj Yongrit

"Hier sind nur noch Tote"

Auch keine Überlebenden. Wer überlebt hat, ist in eines der Krankenhäuser in den nächstgrößeren Städten gebracht worden. Alle anderen sind an verschiedenen Orten aufgebahrt worden. "Hier sind nur noch Tote, sagte man uns. Also habe ich meine Freundin und unsere Freunde unter den Toten gesucht." Esposito spricht davon mit einer erstaunlichen Ruhe, wie einer, der dem Tod fest ins Auge gesehen hat, bis der Tod den Blick abwendete.

Esposito klappert die improvisierten Leichenhallen ab, hunderte Männer, Frauen und Kinder, teils bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Aber fündig wird er nicht. Auch nicht in den Krankenhäusern in der Umgebung. Es wird fünf Monate dauern, bis die Leiche seiner Lebensgefährtin identifiziert wird.

"Man kann und sollte vor so etwas nicht weglaufen"

Da ist in Frankfurt schon der Prozess der Bewältigung gestartet. "Ich hab mich dem Schicksal direkt gestellt. Man kann und sollte vor so etwas nicht weglaufen. Denn es holt einen über kurz oder lang immer wieder ein", sagt Esposito und klingt dabei, als würde er von einem Kampf berichten, den er gewonnen hat. Schon am Tag seiner Rückkehr am 9. Januar sitzt er im Studio der Sendung "hr Sportkalender" und berichtet von den Ereignissen.

Zuhause in der Wohnung, erst ein halbes Jahr zuvor gemeinsam bezogen, bleiben die Kleider der Freundin im Schrank, die Fotos auf den Tischen. "Sie hat dort weiter mit mir gelebt. Wenn auch nicht physisch." Unter der Woche geht Esposito wieder arbeiten, an den Wochenenden konfrontiert er sich mit den Videos aus dem Urlaub. Jenen aus den ersten Tagen, am Strand, beim Segeln. Und jenen aus den letzten Tagen, die Verwüstung, die Suche. "Das war meine Therapie. Ich hatte sehr viele emotionale Momente. Es ist wichtig, sich dem hinzugeben!"

"Der Tsunami war ein nicht gewolltes Geschenk"

"Wenn uns so etwas widerfährt, ist die maßgebende Frage, wie wir in der Lage sind, damit umzugehen", sagt Esposito. Würde man ihm gegenübersitzen und über etwas anderes sprechen, würde man niemals vermuten, in welchen Abgrund der Mann geblickt hat. Esposito spricht mit Frankfurter Zungenschlag, gestikuliert mit italienischem Charme. Er hat ein asketisches Äußeres, ohne dabei Strenge oder Freudlosigkeit auszustrahlen. "Es ist wie es ist", sagt er. "Im Leben eines jeden Menschen gibt es Herausforderungen, Aufgaben und Prüfungen, die es zu bestehen und zu bewältigen gilt. Und so war diese verheerende Katastrophe meine Lektion."

Der Tsunami hat seinen Blick auf die Welt nicht nur verändert, er hat ihn geweitet. Aus dem Personal Coach ist längst ein Bewusstseins-Trainer geworden, der mit seinen Klienten über Akzeptanz spricht, über den Umgang mit Schmerz, über den Einklang von Körper, Geist und Seele. "Das klingt makaber, aber der Tsunami war ein nicht gewolltes Geschenk. Es hat mir etwas gegeben, nicht genommen."

"Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich mal war"

Nämlich die Fähigkeit, anderen Menschen in Krisenzeiten zu helfen. "Dieses Erlebnis hat dazu geführt, dass ich nicht mehr der Mensch bin, der ich einmal war. Und das meine ich im positiven Sinne. Ich bin sehr dankbar für die Lebenszeit, die mir Tag für Tag gestattet wird", sagt er. Seine Firma hat er Underground genannt, Untergrund. Da, wo die Katastrophe herkam. Und die Kraft, damit umzugehen.

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de