50 Prozent weniger Autoverkehr Neues Verkehrskonzept sorgt in Marburg für Unruhe
Kaum ein Thema beschäftigt die Marburger so sehr wie das neue klimaschutzorientierte Verkehrskonzept "MoVe 35". Es soll den Autoverkehr drastisch verringern. Die CDU nennt das Konzept "ideologisch geprägt", die IHK ist in "großer Sorge".
Wie konfliktbelastet die Verkehrssituation in Marburg ist, zeigt sich auch an diesem Dienstagabend, als um 20.45 Uhr ein aufgebrachter Busfahrer in das Bürgerhaus im Marburger Stadtteil Wehrda stürmt. Die Marburger CDU hat hier zum Sonderparteitag geladen, es geht um das neue Verkehrskonzept der Stadt: "MoVe 35".
Mitten in die Diskussion rund um Anwohnerparken, Buslinien und Fahrradstreifen platzt der Busfahrer hinein: Wem denn bitte die ganzen Autos gehörten, die in der Straße vor dem Gebäude parken? Er komme da mit dem Bus einfach nicht mehr durch.
Nachdem sich zunächst niemand meldet und der Busfahrer mit dem Abschleppdienst droht, wird kurz unterbrochen. Dann wird umgeparkt.
"Momentan sind alle Verkehrsteilnehmer unzufrieden"
Es gibt Stress in Marburg. Grund ist, dass die Stadt viel vorhat mit dem Verkehr in der engen und hügeligen Universitätsstadt. Denn wie Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD) es in einem neuen YouTube-Video formuliert: Momentan sind eigentlich alle Verkehrsteilnehmer in Marburg unzufrieden mit dem Ist-Zustand - egal mit welchem Verkehrsmittel sie unterwegs sind.
Nach einem fast dreijährigen Planungs- und Bürgerbeteiligungsprozess wurde im Juni ein neues Mobilitäts- und Verkehrskonzept für das Zieljahr 2035 vorgestellt. Die Koalition aus Grünen, SPD und Klimaliste will es bei der Stadtverordnetenversammlung am 21. Juli beschließen.
"MoVe 35" sieht einen langen Maßnahmenkatalog vor. Die Kernpunkte: Die Situation für Radfahrer, Fußgänger und ÖPNV soll deutlich verbessert werden, Autoverkehr in der Innenstadt soll zwar weiterhin möglich sein, aber um die Hälfte reduziert und insgesamt unbequemer werden, etwa durch weniger Parkraum und Einfahrtsbeschränkungen für Autos.
CDU nennt Konzept "ideologisch geprägt"
Das sorgt mittlerweile für zunehmende Unruhe in Marburg. Zuerst meldete sich die CDU als stärkste Oppositionspartei zu Wort. Auf dem Sonderparteitag am Dienstag hieß es: Zwar seien viele Maßnahmen durchaus sinnvoll, insgesamt sei das Konzept aber nicht zu Ende gedacht.
Aus Sicht der CDU geht es im Konzept nicht wirklich darum, was für die Menschen in der Stadt das Beste ist. Es sei "ideologisch geprägt", heißt es.
Die CDU kritisiert: Nachweislich sinnvolle Maßnahmen, um den Autoverkehr in Marburg zu verbessern, würden beispielsweise bewusst nicht umgesetzt, weil man partout das Autofahren nicht attraktiver machen wolle.
Bevor man den Autoverkehr so wie derzeit vorgesehen einschränke, müssten aber zunächst echte Alternativen geschaffen werden, vor allem durch einen besseren ÖPNV. Unklar sei allerdings, wo so schnell die ganzen Busfahrer, Busse und Stellplätze herkommen könnten, die dafür gebraucht werden, heißt es.
Bürgerbegehren geplant
Der Marburger CDU-Vorsitzende Dirk Bamberger kritisiert zudem das Tempo, mit dem "MoVe 35" nun vorgestellt wurde und beschlossen werden soll. Jahrelang sei daran gearbeitet worden, nun solle es innerhalb weniger Wochen "durchgepeitscht" werden, kritisiert Bamberger.
Zudem habe die Stadt vorab nicht ausreichend über das Ausmaß des geplanten Konzepts informiert. Viele Menschen seien nun verunsichert, meint Bamberger.
Die CDU will gemeinsam mit FDP und Bürgern für Marburg ein Bürgerbegehren anstoßen. Direkt nach der Abstimmung im Stadtparlament am 21. Juli soll die Unterschriftensammlung beginnen, gebraucht werden knapp 2.700 Unterschriften.
IHK in "großer Sorge"
Mittlerweile haben sich auch Gewerbetreibende zu Wort gemeldet. Die Regionalversammlung der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Marburg teilt mit: Man schaue mit "großer Sorge" auf das neue Verkehrskonzept.
Bei "MoVe35" geht es aus Sicht der IHK um eine Verdrängung des Autoverkehrs und weniger um Lösungen. Die Gewerbetreibenden befürchten erhebliche Einschränkungen der Erreichbarkeit zentraler Ziele und von Geschäften in der Innenstadt. Sie meinen: Der Autoverkehr werde dadurch auf Ausweichrouten verlagert und werde dort mehr Staus verursachen. Dies sei eher schädlich für das Klima, so die IHK-Vertreter.
Grundsätzlich begrüße man einige der Ansätze aus dem Konzept. "Zwangsmaßnahmen zur Reduzierung des Kfz-Verkehrs" lehne man allerdings ab, so die IHK. Dies solle man stattdessen durch ausreichende und konkurrenzfähige Alternativen erreichen. Zudem frage man sich, wie all das zu den Zielen der Bundesregierung passe, E-Mobilität zu fördern.
Kritik an Einzelmaßnahmen
Konkrete Kritik an Einzelmaßnahmen gibt es inzwischen auch aus Stadtbereichen, auf die besonders starke Veränderungen in der Verkehrsführung zukommen könnten, etwa zwischen Stadthalle und Elisabethkirche am Fuß der Oberstadt.
Die Biegen- und Deutschhausstraße, derzeit eine der Hauptverkehrsstraßen in Marburg, soll laut "MoVe 35" zur Einbahnstraße werden. Kleinere umliegende Straßen könnten in Zukunft nur noch für Anwohner befahrbar sein. Perspektivisch steht sogar die Möglichkeit im Raum, hier ein nahezu komplett autofreies Quartier zu schaffen. Die Biegenstraße könnte eine "Einkaufs- und Flaniermeile" werden, ähnlich der Mönckebergstraße in Hamburg, heißt es im Konzept.
Ärztin: Patientinnen sind auf Anfahrt mit Auto angewiesen
Die in der Biegenstraße ansässige Gynäkologin Franziska Fischer hält dies für realitätsfern. Sie sieht zudem insbesondere Patientinnen aus dem Umland durch solche Maßnahmen benachteiligt und meint: Viele ältere und schwangere Frauen seien auf Anfahrts- und Parkmöglichkeiten in der Nähe der Praxis angewiesen. Der ÖPNV sei für viele Menschen, die nicht zentral in Marburg leben, derzeit keine echte Alternative, meint sie.
"Und eine hochschwangere Frau aus Gladenbach, die vielleicht auch noch mit kleinen Kindern unterwegs ist, wird auch in Zukunft nicht auf einen Park&Ride-Parkplatz fahren und dann in einen Shuttlebus umsteigen, den es noch gar nicht gibt", meint sie.
"Ich machen mir keine Sorgen um wirtschaftliche Nachteile für die Praxis, weil die Patientinnen ja meistens keine Wahl haben und weiter zu uns kommen müssen", betont die Ärztin: "Ich finde das aber einfach unfair für die Patientinnen aus ländlichen Regionen, die ja ohnehin bereits benachteiligt sind, weil es bei ihnen keine Fachärzte in der Nähe gibt."
Zwar ist im geplanten Verkehrskonzept die Rede davon, dass die Erreichbarkeit durch Rettungsfahrzeuge und von Arztpraxen weiter sichergestellt werden soll. Wie genau, wird allerdings nicht konkretisiert. Fachärztin Fischer reicht das nicht. So etwas schaffe Unsicherheit, sagt sie. Sie wolle deshalb gemeinsam mit vier anderen Praxen in der Umgebung einen Brief an die Stadt schreiben mit der Bitte um konkrete Lösungen.
SPD-Vorsitzender: "MoVe 35" wird beschlossen werden
Thorsten Büchner, Vorsitzender der Marburger SPD, blickt trotz des Gegenwinds gelassen auf die geplante Abstimmung zu "MoVe 35". Auch er nehme wahr, dass das Konzept derzeit ein großes Thema in der Stadtgesellschaft sei. Bei der SPD seien aber noch keine direkten Beschwerden dazu eingegangen.
"Ich gehe davon aus, dass das Konzept so wie geplant am 21. Juli beschlossen wird", sagt Büchner. Er betont: Es gehe nicht darum, Autofahren in Marburg komplett zu verbieten. "Die Menschen, die das Auto brauchen, werden das auch weiterhin nutzen können - wenn auch an der einen oder anderen Stelle etwas unbequemer."
Informationskampagne der Stadt
Die Stadt Marburg setzt auf eine Informationskampagne. An Bushaltestellen hängen Plakate, auch Busse wurden beklebt. In den kommenden Tagen soll außerdem in allen rund 40.000 Marburger Briefkästen ein Infoschreiben der Stadt landen.
Zudem wurden ein Bürgertelefon, eine Webseite und eine E-Mail-Adresse für Rückfragen eingerichtet. Außerdem soll es kommende Woche in der Oberstadt einen Info-Markt geben. Eine direkte Anfahrt und Parken vor der Haustür sind dort nicht möglich, unabhängig von "MoVe 35".
Sendung: hr4, die hessenschau für Mittelhessen, 05.07.2023, 12.30 Uhr
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