Nach archäologischem Überraschungsfund Gedenkort für zerstörte Synagoge soll Leerstelle in Gießen sichtbar machen
Seit bei Bauarbeiten gut erhaltene Überreste der alten Synagoge entdeckt wurden, sucht man in Gießen den richtigen Umgang damit. Jetzt gibt es Entwürfe, wie an das zerstörte Gebäude erinnert werden soll.
Es war eine ungeplante Kollision, wie die Stadt Gießen mitteilt: Anfang des Jahres sollte es eigentlich mit dem lange geplanten Erweiterungsbau der Kongresshalle aus den 1960er Jahren vorangehen.
Bei Baggerarbeiten stieß man dann jedoch auf alte Mauern, mit denen man so nicht gerechnet hatte, und stellte fest: Wo eigentlich das erweiterte Foyer stehen soll, liegen unter der Erde begraben noch die erstaunlich gut erhaltenen Überreste der 1938 von den Nazis zerstörten Synagoge.
Nachdem eine Notausgrabungsstätte eingerichtet worden ist und die Bauarbeiten fast ein Jahr lang geruht haben, liegen nun Entwürfe vor, wie die Stadt mit den Funden umgehen will. Denn klar war von Anfang an: Die Funde gelten als hochbedeutsam - aber die Kongresshalle soll nach wie vor erweitert werden. Was tut man also mit der Ruine? Und welche Auswirkungen hat sie auf die Baupläne?
Mehrere Entwurfsvarianten
Ein auf historische Erinnerungsorte spezialisiertes Architektur-Büro aus Frankfurt hat mehrere Vorschläge dafür erarbeitet. Begleitet wurde der Prozess durch ein interdisziplinäres Fachkolloquium aus 50 Personen. Ein engerer Arbeitskreis bestand schließlich aus den Architekten, Vertretern der Stadt, der Jüdischen Gemeinde, des Landesamts für Denkmalpflege, der Unteren Denkmalschutzbehörde und dem Kongresshallen-Betreiber.
Bei den Entwürfen handelt es sich um zwei Varianten, die zur Auswahl gestellt werden. Sie sollen sich primär im Außenbereich der Kongresshalle befinden. Die freigelegten Fundamente selbst werden demnach in Zukunft nicht mehr sichtbar sein.
Die Entwürfe enthalten außerdem Vorschläge für mobile Elemente, die während des Jahres im Stadtgebiet platziert werden sollen. Zu besonderen Anlässen oder Jahrestagen sollen sie an den Fundort zurückkehren. Ergänzend wurde außerdem ein Ausstellungskonzept für die Kongresshalle selbst erarbeitet.
Variante Eckstein
Dieser Entwurf sieht vor, dass der frühere Grundriss der Synagoge im Außenbereich mit Steinen nachgebildet wird, die durch ihre Höhe zum Sitzen einladen sollen. Als Ecksteine fungieren bewegliche und stapelbare Holzelemente. Sie könnten zum Beispiel vor der heutigen Jüdischen Gemeinde, der Uni oder dem Oberhessischen Museum platziert werden.
Der Aufwand, diese hölzernen Ecksteine zu bewegen, ist laut Entwurf durchaus erwünscht: als Symbol für die Bereitschaft der Gießener Stadtgesellschaft, sich aktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. "Es entsteht damit kein fertiger, sondern ein dynamischer Ort, so wie das Erinnern und Gedenken nie abgeschlossen sein werden, sondern stetigen Wandel bedeuten", heißt es.
Variante Versammlung
Dieser Entwurf basiert auf dem hebräischen Namen für Synagoge: Beth Knesset. Wörtlich übersetzt heißt das "Haus der Versammlung". Die Gebetsbänke des zerstörten Versammlungsorts sollen im Außenbereich der Kongresshalle mit Steinbänken nachgebildet werden und zum Verweilen einladen. Zudem wird vorgeschlagen, in die Bänke die Namen ehemaliger Gemeindemitglieder und Opfer der NS-Zeit einzugravieren.
Zehn Bänke sollen mobil sein und im Stadtgebiet verteilt werden. Die erkennbaren Leerstellen sollen ein Kommentar zur Shoa sein, wie es heißt. Ein historisches Bild der Synagoge soll außerdem nachts per Beamer an die Fassade der Kongresshalle projiziert werden, "um die Geschichte der Überlagerung von Synagoge und Kongresshalle zu zeigen".
Ergänzendes Ausstellungskonzept
In der Kongresshalle selbst soll der Grundriss der Synagoge auf dem Boden markiert werden. Zudem sollen einige Ausgrabungsobjekte gezeigt werden. Über einen QR-Code und eine App können Interessierte vertiefende Informationen abrufen, unter anderem eine digitale Rekonstruktion der Synagoge.
Zudem soll ein Fenster den Blick von der Kongresshalle heraus auf den Außenbereich lenken.
Schwierige Aufgabe
Insgesamt habe es sich durch die Überlagerung verschiedener Themen um "eine sehr, sehr schwierige Aufgabe" gehandelt, sagt Henriette Stuchtey von der Unteren Denkmalschutzbehörde.
Sie erklärt: Man habe einerseits eine Lösung für die geplante Erweiterung der Kongresshalle und die archäologischen Funde finden müssen, andererseits aber auch mit dem Denkmalschutz der Halle selbst umgehen müssen. Das in den 1960ern gebaute Gebäude und der Außenbereich seien inklusive des hohen Baumbestands geschützt.
Fundamente werden verfüllt
Die Fundamente selbst sollen nun mit Sand verfüllt und vollständig überdeckt werden. Stuchtey erklärt: "Heutztage ist es aus Konservierungssicht das beste, eine Fundstelle zuzulassen, um sie so möglichst intakt für die Nachwelt zu erhalten." Sichtfenster auf Ausgrabungsstätten, wie sie eine Zeit lang populär waren, nutze man aus diesem Grund nicht mehr gern.
Ein kleinerer Teil der Mauerreste müsse allerdings durch den Foyer-Erweiterungsbau überbaut werden. "Hier wurde aber eine technische Lösung mit Punktfundamenten gefunden, durch die die Grundmauern möglichst wenig beschädigt werden", versichert Stuchtey.
"Würdiger Ort für Gießen"
Lawrence de Donges-Amiss-Amiss, der für die Jüdische Gemeinde an der Entwicklung mitgewirkt hat, sagt, man sei mit den Entwürfen sehr zufrieden: "Es wird ein würdiger Ort für Gießen werden." Die Synagoge gehöre damit wieder zum Mittelpunkt der Stadt, direkt gegenüber dem Stadttheater und neben dem Rathaus.
Auch Gießens Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD) lobte die Entwürfe. Besonders hob er hervor, dass sie das Leben in der Kongresshalle und das Gedenken miteinander verbinden würden: "An diesem Ort kann man nicht mehr sein, ohne wahrzunehmen, wo man ist und was hier mal war."
Favorisierter Entwurf Versammlung
Sowohl Stadt, Jüdische Gemeinde als auch das Architekturbüro selbst favorisieren derzeit die Variante Versammlung. Letztlich entscheiden wird darüber aber die Stadtverordnetenversammlung, voraussichtlich noch im Dezember. Im kommenden Jahr könnten die Bauarbeiten beginnen.
Offen ist zudem die Frage, ob die Kongresshalle im Zuge des Umbaus möglicherweise einen neuen Namen bekommt. Das hat das Landesamt für Denkmalpflege vorgeschlagen.
Sendung: hr2-kultur, 15.11.2023, 13.20 Uhr
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