Angehörige aus Hessen über das Erdbeben in der Türkei "Ich will doch nur hören: Ja, sie leben!"
Mindestens 16.000 Menschen sind bei den schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien ums Leben gekommen. Angehörige der vielen Opfer gibt es auch in Hessen. Vier Menschen aus dem Landkreis Offenbach erzählen, wie sie das Erdbeben persönlich getroffen hat - und wie sie von Hessen aus helfen.
Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnten bis zu 23 Millionen Menschen von den Folgen der beiden Erdbeben in der Türkei und Syrien betroffen sein. Behörden und Rettungskräfte sprachen am Samstag von über 24.000 Toten und 80.000 Verletzten. Die Zahlen dürften noch steigen, etliche Menschen sind bei eisigen Temperaturen noch verschüttet.
Im Kreis Offenbach leben besonders viele Menschen, die in den betroffenen Gebieten Familie und Freunde haben. Laut Kreisausländerbeirat wohnen allein in Dietzenbach mehr als 1.500 Menschen, die ihre Wurzeln in der Provinz Kahramanmaraş haben - dort, wo am Montagmorgen das Hauptbeben sein Epizentrum hatte. Vier von ihnen berichten.
"Bis jetzt ist nur ein Enkelkind gerettet worden"
Yeter Öztaş (41) kommt aus Helete in der Provinz Kahramanmaraş. Fünf Mitglieder ihrer Familie starben durch das Erdbeben am Montag, nur ein Kind konnte gerettet werden.
"Im Haus waren der Bruder meines Schwagers, seine Frau, seine Mutter und zwei Enkelkinder. Sie alle wurden verschüttet", sagt Yeter Öztaş und ringt um Worte. "Die Enkel besuchten ihren Opa und übernachteten beim Bruder meines Schwagers, weil sein Haus neu war und sie dort im Warmen schlafen konnten."
Um vier Uhr in der Nacht sei es passiert: "Da ist das Haus komplett eingestürzt. Bis jetzt ist nur ein Enkelkind gerettet worden. Ich kann das alles nicht glauben", sagt sie und ihr kommen die Tränen. "Ich will jede Minute anrufen, um zu wissen, ob es irgendetwas Neues zu berichten gibt", sagt Öztaş - aber die Telefonate seien kurz. "Lass uns schnell auflegen, unsere Akkus gehen leer, sagen meine Verwandten. Die haben ja nicht mal Strom!"
Mit jeder Minute, in denen ihre Verwandten nicht gefunden werden, schwänden die Chancen, sagt Öztaş. "Ich will doch nur hören: Ja, sie leben doch!"
"80 bis 90 Prozent dürfen nicht in die Häuser rein. Die haben nichts."
Rafet Solak (46) aus Dietzenbach ist Unternehmer und Vorstandsmitglied der deutsch-türkischen Gesundheitsstiftung in Hessen. Seine Eltern stammen aus der Erdbebenregion in Kahramanmaraş und Malatya. Aktuell koordiniert er hessenweit Hilfen für die Erdbebenopfer.
"In der Nacht hat mich ein Freund angerufen und mir von der Katastrophe erzählt. Danach habe ich sofort versucht, meine Bekannten zu erreichen", sagt Rafet Solak. Doch das Handynetz in der Türkei sei immer wieder zusammengebrochen, von 20 Anrufen konnte er nur zwei tätigen. "Seitdem habe ich im Schnitt zwei Stunden am Tag geschlafen", sagt er. Ihm sei sofort klar gewesen, dass er helfen möchte. 170 Telefonate habe er dafür allein am Dienstag geführt.
Es gibt keine Volksgruppe in Deutschland, die nicht gespendet hat. Das habe ich noch nicht erlebt. Zitat von Rafet SolakZitat Ende
"Es ist Teamarbeit", sagt Solak. "Wir haben einen Aufruf gestartet und mehr als hundert Personen haben sich gemeldet." Ohne die hätte es nicht funktioniert: Bis zum Donnerstag schickten sie sechs Lkw in die Türkei. Vorher habe er mit dem türkischen Halbmond, den Behörden und dem türkischen THW Rücksprache gehalten, was benötigt wird.
"Babynahrung, Windeln, Hygieneartikel, Winterkleidung, Decken - das Erdbeben war mitten in der Nacht. Alle haben geschlafen und sind mit T-Shirts und kurzen Hosen rausgegangen. Rund 80 bis 90 Prozent dürfen jetzt nicht mehr in die Häuser rein. Die haben nichts." Bis die Lkw in der Erdbebenregion ankommen, dauere es bis zu sieben Tage. Deshalb seien Geldspenden derzeit besser, weil sie ohne Verzögerung ankommen.
"Ich freue mich, dass es mit den Hilfen klappt und vor allem, dass die Politik dabei vergessen wird", sagt Solak. "Gestern hat ein griechisches Suchteam einen Menschen gerettet. Zwischen Griechenland und der Türkei gibt es Spannungen, aber die griechischen Helfer haben geweint, weil sie einen Menschen retten konnten. Alle haben sich umarmt - das ist Menschlichkeit. Wenn wir nicht zusammenhalten, wer sonst?"
"Das Stadtzentrum liegt in Schutt und Asche"
Hidir Karademir ist Abgeordneter in der SPD-Kreistagsfraktion des Landkreises Offenbach und Mitglied im Haupt- und Finanzausschuss. Er war Mitgründer des deutsch-türkischen Freundschaftsvereins und des Ausländerbeirats Rödermark. Der 69-Jährige stammt aus der Region Malatya in der Türkei, die an Kahramanmaraş grenzt.
"Malatya ist eigentlich ein freundlicher Ort - aber zurzeit liegen fast 90 Prozent des Stadtzentrums in Schutt und Asche. Beim Erdbeben habe ich leider meinen älteren Bruder verloren", sagt Karademir. Der 72-Jährige, von Beruf Bauer, war krank und zur Behandlung in der Stadt. "Er ist nicht verschüttet worden, aber während der Flucht bekam er eine solche Panik, dass er sein Sauerstoffgerät nicht mehr aufsetzen konnte und noch im Treppenhaus gestorben ist."
Die Menschen vor Ort versuchen sich jetzt untereinander beizustehen und sich sozusagen am Leben zu halten. Zitat von Hidir KarademirZitat Ende
"Ich wollte am Montag unbedingt nach Malatya fliegen, um meiner Familie beizustehen. Sie sagten, wir sollten um Himmels Willen nicht kommen, weil die Stadt nach dem zweiten Beben total in sich zusammengefallen ist. Es gibt kein Hotel, keine Wohnung, keine Autos mehr, worin man schlafen könnte", sagt Karademir.
"Die Menschen vor Ort versuchen sich jetzt untereinander beizustehen und sich sozusagen am Leben zu halten." Besonders der viele Schnee mache die Lage so dramatisch. Er zeigt ein Video auf seinem Mobiltelefon: ein Schneepflug, der einen Leichenwagen durch den Schnee zieht. "Die Straßen sind alle zu", sagt er.
"Bis die Toten geborgen und die Schäden aufgeräumt sind, sollten wir unseren Mund halten. Danach muss man auch deutlich nachfragen, wie es dazu kommen konnte. Es ist bekannt, dass das ein Erdbebengebiet ist. Warum wurde keine ausreichende Bauaufsicht betrieben, warum wurden die Häuser nicht normgerecht gebaut - sogar Krankenhäuser, die erst seit fünf oder zehn Jahren standen", fragt Karademir.
"Dietzenbach steht zusammen"
Salman Yavuz (57) hat eine Baufirma und ist Vorsitzender des türkischen Kulturvereins Çağlayancerit e.V. - Çağlayancerit ist eine Gemeinde in der Provinz Kahramanmaraş. Unter den Todesopfern des Erdbebens sind Freunde von ihm. Mit seinem Verein in Dietzenbach organisiert er Geld- und Sachspenden.
"Im ersten Moment stand ich unter Schock und wusste nicht was ich machen sollte", sagt Yavus. "Mein Bruder und seine zwei Kinder leben jetzt im Auto, weil sie nicht im Haus bleiben konnten. Mein anderer Bruder sitzt mit seinem 17-jährigen behinderten Kind in der Garage. Es schneit und sie können kein Feuer machen." Einen halben Tag habe er gebraucht, dann sagte er zu sich: "Ich muss jetzt etwas machen!" Mit seinem Dietzenbacher Kulturverein organisiert Yavus Spenden für die Menschen vor Ort.
Gestern kam eine Frau aus der Ukraine zu mir - das hat mich sehr berührt. Die Frau wollte helfen, weil ihr vor einem Jahr auch so sehr geholfen wurde. Zitat von Salman YavuzZitat Ende
"Dietzenbach steht zusammen und alle sind sehr herzlich. Nicht nur die Türken oder die Deutschen spenden. Gestern kam eine Frau aus der Ukraine zu mir - das hat mich sehr berührt. Die Frau wollte helfen, weil ihr vor einem Jahr auch so sehr geholfen wurde. Das war für mich eine Ehre", sagt der 57-Jährige, der seit 33 Jahren in Deutschland lebt.
So richtig glücklich mache ihn das Spenden aber auch nicht. "Ich kann nicht glücklich sein, wenn alle Menschen bei Minus sieben Grad im Auto leben müssen; wenn tausende Leute verschüttet unter der Erde sind und tausende Leute obdachlos. Aber wenn ich den Leuten helfe und dann vielleicht ein Lächeln sehe - dann macht mich das ein bisschen glücklicher."
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 9.2.23, 16.45 Uhr
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