Bus- und Bahnverkehr Warum ein Gesetz für Barrierefreiheit im ÖPNV kaum Wirkung zeigt
Seit einem Jahr soll der öffentliche Nahverkehr in Deutschland barrierefrei sein – so steht es im Personenbeförderungsgesetz. Doch in der Realität gibt es für Menschen mit Behinderungen auch in Hessen noch immer viele Hürden.
Eine Fahrt mit Bussen und Straßenbahnen durch Hessen sollte auch im Rollstuhl eigentlich kein Problem mehr sein. Bereits zum Stichtag 1. Januar 2022 sollte nach dem 2013 neu gefassten Personenbeförderungsgesetz die "vollständigen Barrierefreiheit" im Nahverkehr erreicht sein. Doch die Realität sieht auch in Hessen in weiten Teilen noch immer anders aus.
So sind laut der Landesbehörde Hessen Mobil in Frankfurt nur 52 Prozent der Straßenbahnhaltestellen barrierefrei, in Darmstadt 75 Prozent und in Kassel 94 Prozent. Im Busverkehr ist die Zahl der barrierefreien Haltestellen noch geringer.
Hessen Mobil verweist auf Angaben aus der Antwort des Verkehrsministers Tarek Al-Wazir auf eine kleine Anfrage von März 2022, die genannten Zahlen beziehen sich auf den Stand 1. Januar 2022: 41,4 Prozent der Bushaltestellen seien zu diesem Zeitpunkt vollständig oder weitgehend barrierefrei ausgebaut gewesen. In einer Übersicht des Bundesverkehrsministeriums ist von 5.406 vollständig barrierefreien Bushaltestellen in Hessen die Rede, doch es gibt keinen Vergleichswert.
Gesetz nur auf dem Papier?
Das ist ein Grund, weshalb Aktivistin Cécile Lecomte das Personenbeförderungsgesetz als "Papiertiger" bezeichnet, das wenig für Betroffene wie sie geändert habe. Die 41-Jährige ist selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. Immer wieder protestiert sie gegen fehlende Barrierefreiheit im Bus- und Bahnverkehr. Durch Aktionen wie die im Sommer vergangenen Jahres, als sie sich im Rollstuhl sitzend am Frankfurter Westbahnhof abseilte, versucht sie Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen.
"Zuständige sind trotz der langen Umsetzungszeit einfach nicht tätig geworden", sagt Lecomte. "Die Gesellschaft achtet wenig auf das Thema Barrierefreiheit, obwohl es für alle von Vorteil wäre." Schließlich profitierten etwa von stufenfreien Zugängen auch Menschen, die mit Fahrrädern, Kinderwagen oder Rollatoren unterwegs seien.
Ausnahmen im Nahverkehrsplan erlaubt
Von der Möglichkeit die Barrierefreiheit im Einzelfall einzuklagen, hält die Aktivistin nicht allzu viel. Auf Basis des Personenbeförderungsgesetzes ist das für Betroffene oder Verbände ohnehin kaum möglich. Denn der Gesetzestext formuliert bezüglich der Barrierefreiheit eine wichtige Einschränkung: Sie wird dann vorgeschrieben, wenn diese im Nahverkehrsplan benannt und begründet ist.
Diese Begründungen sind aber in den hessischen Nahverkehrsplänen immer noch nicht überall vorhanden. So teilte Hessen Mobil auf Anfrage mit, dass sich etwa der Nahverkehrsplan der Stadt Kassel aktuell "in Fortschreibung" befinde.
VdK: große regionale Unterschiede in Hessen
Auch der Sozialverband VdK Hessen-Thüringen kritisiert, dass die Ausnahmeregelung das Gesetz zu wirkungslos mache. Außerdem gebe es in Hessen in den verschiedenen Regionen teils große Unterschiede bei der Barrierefreiheit. Nach einer Umfrage des VdK bei den hessischen Landkreisen erreichte der Main-Taunus-Kreis Ende 2021 einen Spitzenwert von 67 Prozent barrierefrei ausgebauten Haltestellen, während der Vogelsbergkreis auf lediglich 4 Prozent kam.
Wenn Menschen im Rollstuhl mit Bus und Bahn unterwegs sind, dann ist es für sie oft nicht einfach im Vorfeld herauszufinden, ob sie ihre Wege problemlos bewältigen können. Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL) kritisiert, dass die Ausnahmeregelung im Personenbeförderungsgesetz für Betroffene zu intransparent sei. Es brauche eine analoge und digitale Möglichkeit, die barrierefreien Haltestellen aufzufinden, so die Forderung des Vereins.
VRN: rund 23 Prozent Ausnahmen
Einige Verkehrsverbünde haben solche digitalen Angebote inzwischen, andere nicht - oder sie sind noch im Ausbau, wie zum Beispiel beim Verkehrsverbund Rhein-Neckar (VRN). Ein Sprecher des VRN teilte mit, dass eine entsprechende Erhebung jedoch abgeschlossen sei, nun müssten die Daten noch für die Fahrgäste aufbereitet werden.
Von den 1.066 Bushaltestellen in Kreis Bergstraße sind demnach rund 11 Prozent vollständig barrierefrei (Stand 1. Januar 2023). Rund 23 Prozent der Haltestellen seien als Ausnahmen definiert, die "aus unterschiedlichen Gründen" nicht für den barrierefreien Ausbau vorgesehen sind - darunter fielen zum Beispiel bauliche Schwierigkeiten oder eine geringe Nutzung der Haltestellen.
Der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) und der Nordhessische Verkehrsverbund (NVV) hingegen haben bereits digitale Angebote: die Webseite der NVV-HaltestellenInfo oder die Fahrplanauskunft-App des NVV sowie die "barrierefreie Verbindungsauskunft" des RMV.
Lecomte: "Das funktioniert schlecht"
Aktivistin Lecomte hat dieses Angebot für Darmstadt, wo sie häufig unterwegs ist, nach eigenen Angaben getestet. Ihr Fazit: "Das funktioniert schlecht, oder ich bin unfähig, damit umzugehen. Aber es gehört auch zur Barrierefreiheit, dass ein System durch Laien bedienbar sein muss."
Eine Verbindung über den Darmstädter Luisenplatz etwa werde ihr als barrierefreie Verbindung für die ausgewählte Option "Rollstuhl" angezeigt. "Obwohl sie sicher nicht barrierefrei ist", sagt Lecomte. Schon vor einem Jahr hatte sie bei der Stadt Darmstadt gefragt, weshalb sämtliche Haltestellen am Luisenplatz nicht barrierefrei seien. Die Begründung: Denkmalschutz und ungünstig verlaufende Straßenbahngleise, die einem Umbau im Wege stünden.
Doch selbst dort, wo das Gesetz zum barrierefreien Nahverkehr schon umgesetzt wird - ohne Ausnahmen, bleibt ein Problem für viele Betroffene. Wer öffentliche Transportmittel benutzt, beschränkt sich oft nicht auf ein Verkehrsmittel. Sondern steigt vom Bus in die S- oder Regionalbahn - oder in den Fernverkehrszug. Für diese Bereiche gilt das Personenbeföderungsgesetz nicht.
Komplizierte Gesetzeslage
Genau das mache die Gesetzeslage kompliziert, erklärt Oliver Tolmein. Er vertritt als Rechtsanwalt eine Klage der ISL wegen mangelnder Barrierefreiheit gegen die Deutsche Bahn.
Der öffentliche Personenverkehr fällt in zahlreiche unterschiedliche Gesetzesbereiche: Eisenbahnrecht, Fernverkehrsrecht, Nahverkehrsrecht, Planungsrecht. "Menschen, die betroffen sind, müssen hochspezialisierte Anwälte bezahlen", sagt er. Nur die wenigsten Betroffenen hätten die Mittel dafür, deshalb sei der Zugang zum Rechtsweg nicht einfach.
Neues Ziel: 2026
Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag inzwischen ein neues Ziel gesteckt. Barrierefreiheit im Personennahverkehr bis 2026, dann auch ohne Ausnahmen - die in Hessen laut Hessen Mobil aktuell für 24,4 Prozent der Bushaltestellen gelten. Ob das bis 2026 realistisch aufgeholt werden kann? Cécile Lecomte sagt dazu nur: "Wir Menschen mit Behinderungen sind es gewohnt, dass alles immer länger dauert."
Anm. d. Red.: Eine Formulierung in einer früheren Version dieses Beitrags hat den Eindruck erweckt, dass Hessen Mobil zuständig für den barrierefreien Haltestellenausbau sei. Dafür zuständig sind als Aufgabenträger jedoch die Landkreise oder kreisfreien Städte. Hessen Mobil ist lediglich ein Ansprechpartner für das Thema ÖPNV auf Landesseite und kann als Straßenbaulastträger am barrierefreien Ausbau von Haltestellen beteiligt sein.