Begleitete Elternschaft bei kognitiver Beeinträchtigung Selbstbestimmt und trotzdem nicht allein
Schuhkauf, Hausaufgaben, Wutanfall: Wie können Menschen, die selbst Unterstützung im Alltag brauchen, Verantwortung für eigene Kinder übernehmen? Ein Angebot der Lebenshilfe Gießen ermöglicht ein selbstbestimmtes Familienleben - auch wenn die Eltern geistig beeinträchtigt sind.
Zwei Probleme hat Lisa aus der Schule mitgebracht. Das erste ist eine schmierige Angelegenheit, stellt Mutter Silvia Bernhardt fest: eine ausgelaufene Brotdose im Ranzen - das Grauen aller Eltern. Ihre elfjährige Tochter hatte heute ausgerechnet Mozzarella dabei. Sie will sich später darum kümmern, sagt Bernhardt und seufzt.
Für das andere Problem hat sie so schnell keine Lösung. Lisa braucht ein neues Foto für den Schülerausweis. Silvia Bernhardt weiß nicht, wo man das machen kann. Aber sie weiß, wer ihr bei dieser Frage helfen kann.
Begleitete Elternschaft
Lisa und Silvia Bernhardt leben in einer Zwei-Zimmer-Wohnung am Gießener Stadtrand. Einkaufen, Kochen, zur Schule gehen - ihren Alltag organisieren die Bernhardts weitgehend allein. Mehrmals täglich klopft es aber an der Tür. Dann schauen Mitarbeiterinnen der Lebenshilfe Gießen vorbei und fragen, ob alles in Ordnung ist.
Auf dem Flur des Mehrfamilienhauses wohnen noch vier weitere Familien, in denen die Eltern wie Silvia Bernhardt eine kognitive Beeinträchtigung haben. Es ist kein Heim - alle Familien führen selbstständige Haushalte. Aber eine Wohnung im Hausflur ist als Betreuer-Wohnung reserviert. Rund um die Uhr sind Mitarbeiter der Lebenshilfe vor Ort.
Betroffene wurden häufig sterilisiert
Es ist noch nicht lange her, da war es in Deutschland gesellschaftlich tabu, wenn nicht sogar ausdrücklich unerwünscht, dass Menschen mit geistiger Behinderung selbst eine Familie gründen. Noch bis in die 2000er Jahre hinein wurden viele Betroffene sterilisiert, oft sogar ungefragt.
Die Angst war groß, dass sie sich als Eltern später nicht um ihre Kinder kümmern könnten. Manchmal wurde auch befürchtet, die Kinder könnten ebenfalls behindert sein. Wurde doch jemand schwanger, entschieden die Jugendämter meist, das Baby nach der Geburt anderweitig unterzubringen, etwa bei Verwandten oder in Pflegefamilien. Bis heute ist das ein gängiges Verfahren.
Ein Recht auf Familie
Auf Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 haben Menschen mit Beeinträchtigungen allerdings mittlerweile ein Recht auf freie Entfaltung ihrer Sexualität und auch darauf, Eltern zu sein und dabei staatliche Unterstützung zu bekommen.
Aber die Frage bleibt: Wie kann so ein Familienleben praktisch aussehen? Einerseits sollen die Familien zusammenbleiben, andererseits sichergestellt werden, dass die Kinder ausreichend versorgt und gefördert werden.
Vom Schuhkauf bis zu den Hausaufgaben
Ermöglichen sollen das Programme wie die "Begleitete Elternschaft". Derartige Angebote sind noch jung, und sie sind rar. Es gibt in Hessen beispielsweise Angebote in Darmstadt, Frankfurt und Kassel. In Gießen ist bisher aber das einzige Haus, in dem rund um die Uhr ein Ansprechpartner direkt vor Ort ist.
In der Betreuer-Wohnung hat an diesem Tag Marie Luise Ossenkop Dienst. Neben den täglichen Routine-Besuchen biete sie den Familien individuelle Unterstützung an, erklärt die Erzieherin. Etwa, wenn ein Kind Hilfe bei den Hausaufgaben braucht und die Eltern nicht weiterwissen. Oder wenn ein größerer Einkauf ansteht und sich die Eltern fragen: Welche Schuhe sind die richtigen? Wo kann ich welche kaufen? Wie viel kosten Schuhe überhaupt?
"Es kann auch sein, dass eine Familie Unterstützung beim Ausbau der Mutter-Kind-Beziehung braucht", erklärt Ossenkop. Dann gehe es zum Beispiel darum, zu erkennen, wann ein Kind hungrig ist oder in den Arm genommen werden möchte.
Alltag wie überall
Auch Silvia Bernhardt ist froh, wenn ihr die Lebenshilfe-Mitarbeiterinnen helfen, zum Beispiel beim "Papierkram", wie sie es nennt: Mietverträge, Abrechnungen und so weiter – damit habe sie Schwierigkeiten, sagt sie.
Abgesehen von den Besuchen der Lebenshilfe ähnelt der Alltag der beiden ansonsten wohl dem von vielen Familien mit einer Elfjährigen kurz vor der Pubertät: Zwischen Augenrollen und Diskussionen über die Handy-Zeit klettert Lisa auf Mamas Schoß und holt sich eine kleine Kuscheleinheit ab.
Die beiden haben ein inniges Verhältnis und auch einige Gemeinsamkeiten: Sie basteln gerne miteinander, gehen viel raus und teilen den Musikgeschmack. "Beim Aufräumen machen wir am liebsten laut Schlager an und tanzen dabei", erzählt Silvia Bernhardt.
"Wir bleiben, bis alle sich wieder beruhigt haben - auch nachts"
Die Familien sollen möglichst eigenständig leben, erklärt Marie Luise Ossenkop. Manchmal komme es auch vor, dass die Pädagogen aktiv eingreifen müssen. "Wenn zum Beispiel ein Kind einen Wutanfall hat und die Eltern nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollen, dann helfen wir, deeskalieren und entzerren das."
Auch nachts seien sie zur Stelle. "Wenn ein Kind weint, die Mutter nicht weiter weiß und vielleicht selbst sehr aufgeregt ist, dann bleiben wir - so lange, bis alle sich beruhigt haben." Das Kindeswohl stehe über allem, betont sie.
"Es war ein langer Weg"
Bis sie die "begleitete Elternschaft" anbieten konnten, war es ein sehr langer Weg, erklärt die langjährige Aufsichtsratsvorsitzende der Gießener Lebenshilfe Maren Müller-Erichsen. Die 85-Jährige kämpft seit Jahrzehnten für mehr Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen.
Auch ihr eigener Sohn Olaf, der das Down-Syndrom hatte und 2021 an Corona starb, wünschte sich eine eigene Familie, erzählt sie. Müller-Erichsen selbst war nach Olafs Geburt ungefragt sterilisiert worden. Die Ärzte hatten damals befürchtet, sie könne noch weitere behinderte Kinder bekommen.
Besonders hart abgeprallt sei sie mit dem Thema Kinderwunsch von Menschen mit Beeinträchtigung einerseits in der Politik - aber lange Zeit durchaus auch bei den betroffenen Familien, berichtet Müller-Erichsen.
Größte Herausforderung: Bürokratie
Angesichts mangelnder Hilfsangebote hätten Eltern befürchtet: Sollten ihre beeinträchtigten Kinder mal selbst Eltern werden, dann würden wohl sie sich um die Enkel kümmern müssen. "Ich bin bei einem Kongress mal richtig ausgebuht worden", sagt die Lebenshilfe-Vorsitzende. Inzwischen habe sich viel getan. Vorurteile gebe es aber bis heute.
Die größte Herausforderung seien aber weder Eltern noch Kinder, sondern die Bürokratie, ergänzt der Gießener Lebenshilfe-Geschäftsführer Dirk Oßwald. Für die Unterstützung der Eltern sei der Landeswohlfahrtsverband zuständig, für die der Kinder das jeweilige Jugendamt.
Die Folge: Verschiedene Regelwerke, verschiedene Kostenträger, verschiedene Sachbearbeiter. Es habe sehr lange gedauert, das alles zusammenzubekommen. Und bis heute sei es kompliziert.
Völlig selbstverständlich
Nachdem Pädagogin Ossenkop ihnen erklärt hat, wo sie Fotos für den Schülerausweis machen können und angeboten hat mitzukommen, beschließen Lisa und Silvia Bernhardt, dass sie lieber alleine losziehen wollen. Lisa braucht ohnehin noch Haarspangen. Da können sie gleich noch einen Stadtbummel machen.
Dass die Bernhardts in in Gießen so selbstverständlich zusammenleben, wäre vor gar nicht langer Zeit kaum möglich gewesen. Unvorstellbar, sagt Silvia Bernhardt. Und auch Lisa sagt, sie wohne sehr gerne hier gemeinsam mit ihrer Mama. Na klar, wo auch sonst?
Sendung: hr-iNFO, 28.02.2024, 9 Uhr
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