"Menschenunwürdige" Behandlungssituation Beschwerdestelle erhebt schwere Vorwürfe gegen Marburger Psychiatrie
In der Psychiatrie des Marburger Uniklinikums werden Patienten wegen Platzmangels teils auf Fluren fixiert und überwacht. Eine Beschwerdestelle im Landkreis schlägt Alarm und nennt die Zustände "menschenunwürdig".

Bauliche Mängel, zu wenig Platz und psychisch kranke Patienten, die teilweise fixiert im Stationsflur liegen müssen, weil das eigentliche Behandlungszimmer belegt ist. Das sind Beschwerden, wie Reinhard Naumann sie seit Jahren immer wieder zu hören bekommt.
Naumann ist Psychiater im Ruhestand und Mitglied der unabhängigen Beschwerdestelle Psychiatrie für den Kreis Marburg-Biedenkopf. Die ehrenamtlichen Mitglieder nehmen Beschwerden von Psychiatriepatienten oder ihren Angehörigen entgegen und tragen sie an die Verantwortlichen weiter.
Unabhängige Beschwerdestelle kritisiert Missstände
Seit rund fünf Jahren existiert die Beschwerdestelle – und immer wieder weist sie seitdem auf die aus ihrer Sicht mittlerweile unzumutbare und "menschenunwürdige" Behandlungssituation in der Psychiatrie-Abteilung des Uniklinikums Gießen und Marburg (UKGM) im Marburger Stadtteil Ortenberg hin. Doch verändert hat sich bislang nichts.
Konkret geht es um zwei der sechs Stationen der Klinik, beide geschlossene Akut-Stationen im Hauptgebäude mit jeweils 14 Behandlungsplätzen. Eine davon ist eine Schwerpunktstation für Abhängige, die andere die psychiatrische Intensivstation.
Die Hauptkritik bezieht sich auf die räumlichen Gegebenheiten in dem veralteten Betonbau, der schon lange als sanierungsbedürftig gilt. Die Mitglieder der Beschwerdestelle bemängeln unzureichende Privatsphäre und ein räumliches Umfeld, das die Genesung erschwere.
Besonders in Fixierungen und Überwachungen von Patientinnen und Patienten in Fluren statt in Behandlungszimmern sehen sie zudem "eine schwerwiegende Verletzung der Persönlichkeitsrechte".
Uniklinikum räumt Probleme ein
Auf hr-Anfrage ermöglichte das Uniklinikum zwar keinen Einblick in die Räumlichkeiten, räumte aber ein: Psychiatriepatienten würden derzeit tatsächlich teilweise in Fluren überwacht – allerdings nur "in absoluten Ausnahmefällen", wie es heißt.
Nötig werde dies, wenn das vorhandene Überwachungszimmer bereits belegt sei und es keine andere Möglichkeit gebe, Patientinnen und Patienten anderweitig zu überwachen, so das UKGM. Auch wenn zu wenig Personal für eine dauerhafte Eins-zu-Eins-Überwachung im separaten Raum vorhanden sei, werde ein Patient auf dem Flur überwacht, weil ihn dort das Klinikpersonal immer im Blick habe.
Die meisten überwachten Patienten seien dabei nicht fixiert, betont die Klinik. Insgesamt habe man im hessenweiten Vergleich mit die niedrigsten Zahlen von Fixierungen.
Die Klinik betont: Die Versorgung finde "regelhaft und bestmöglich nach medizinischen Standards" statt. Von "mangelhaft" oder "menschenunwürdig" könne keine Rede sein.
"Menschen in schweren Ausnahmesituationen brauchen Schutz"
Für Naumann von der Beschwerdestelle sind solche Zustände dennoch unhaltbar: In der Regel handle es sich um Patienten in schweren psychischen Ausnahmesituationen, die möglicherweise auch aggressives Verhalten gegen sich selbst oder andere zeigen. "Diese Menschen brauchen einen sehr geschützten Raum."

In der modernen Psychiatrie seien dafür sogenannte Deeskalationsräume vorgesehen: ruhige, reizarme Räume mit spezieller weicher Wandverkleidung. Auch eine Uhr sei darin vorgeschrieben, damit Betroffene sich zeitlich orientieren können.
"Nichts davon ist gegeben, wenn man in einem öffentlichen Flur liegt", meint Naumann. "Durch den laufen außerdem nicht nur Personal und Patienten, sondern auch Besucher", kritisiert er.
Ehemaliger Patient bestätigt Missstände
Ähnlich sieht das auch Andreas Jung, der als ehemals Betroffener die Klinik aus einem eigenen Aufenthalt vor einigen Jahren kennt. Heute ist er Genesungshelfer und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie sowie ehrenamtlich engagiert bei der Marburger Beschwerdestelle.
Auch Jung sieht die Überwachung von Patienten in Fluren als hochgradig problematisch an und empfindet dies als potenziell demütigend für die Betroffenen. Er betont: Das Personal in der Einrichtung sei sehr engagiert und hoch qualifiziert. Die Räumlichkeiten seien dagegen "katastrophal".

Auch darüber hinaus gebe es in dem Gebäude bauliche Mängel und unzureichende Möglichkeiten, um die Intimsphäre der Betroffenen zu wahren. Jung berichtet: Bis zu vier Patienten müssten sich derzeit auf den betreffenden Stationen Zimmer teilen, ohne zimmereigene Nasszellen.
Nach einer erneuten Begehung vor zwei Wochen sei den Mitgliedern der Beschwerdestelle zudem Schimmel im Speisesaal aufgefallen – verursacht durch einen Wasserschaden. "Die Unterbringung gleicht eher einem Obdachlosenheim."
Das Uniklinikum erklärte dazu auf Nachfrage, man behebe bauliche Mängel immer wieder schnell - auch den genannten Wasserschaden.
Neubau geplant
Nachdem in Marburg lange ein Umbau des bestehenden Gebäudes im Gespräch war, steht inzwischen fest: Die Psychiatrie soll bis 2028 einen Neubau bekommen und vom Stadtteil Ortenberg auf das Hauptgelände des UKGM auf den Lahnbergen ziehen.
Doch bis dahin ist es noch lang – viel zu lang, um die bestehenden Missstände einfach hinzunehmen, meint die Beschwerdestelle Psychiatrie.
Das UKGM teilt mit: Für den Übergang sei angedacht, die betroffenen Stationen in die ehemaligen Räume der Kinder- und Jugendpsychiatrie nebenan zu verlegen, die nach einem Neubau leer stehen. Zudem wolle man auf den Stationen noch in diesem Jahr übergangsweise weitere Überwachungszimmer einrichten. Die Vorbereitungen hätten länger gedauert als geplant, aber die Bauanträge lägen nun bei der Stadt.
Diese bestätigt, dass die Anträge seit Januar vorliegen. Sie seien derzeit in der finalen Prüfung.
Reinhard Naumann fordert: Nach Jahren des Stillstands müsse nun schnell etwas passieren, um die Situation zu verbessern. Andernfalls müsste die Uniklinik die Stationen eigentlich schließen. Er meint: In diesem Umfeld könnten Patienten kaum genesen.