hr-Doku in ARD-Mediathek Wie der BND gezielt Mörder aus der Nazi-Zeit rekrutierte
Der Bundesnachrichtendienst hat sich in den 1950er und 1960er Jahren systematisch um Mörder und Schreibtischtäter der Nazidiktatur bemüht. Das zeigt eine neue ARD-Doku. Darunter war auch ein ehemaliger Gestapo-Referatsleiter aus Kassel.
Zivilisten in Italien erschossen, die polnische Elite ermordet, tausende Jüdinnen und Juden in Arbeitslager geschickt und ihre Hinrichtungen angewiesen: Die Liste der Verbrechen, die Mitglieder der Geheimen Staatspolizei, kurz Gestapo, im Nationalsozialismus begangen haben, ist lang. Eine hr-Doku zeigt nun: Nicht nur trotz, sondern sogar wegen dieser Vergehen wurden viele von ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Bundesnachrichtendienst (BND) aufgenommen. Akten belegen, dass sie gezielt und systematisch rekrutiert wurden.
Einer von ihnen: Erich Wiegand, geboren 1913 in Willingen-Usseln (Waldeck-Frankenberg). Im Alter von 19 Jahren schloss er sich der sogenannten Schutzstaffel (SS) an, die für Adolf Hitler im Nationalsozialismus politische Gegner und jüdische Menschen vertrieb und verfolgte. 1934 trat Wiegand der Gestapo in Kassel bei. Als Referatsleiter war er ab 1941 zuständig für tausende Zwangsarbeiter im damaligen Arbeitserziehungslager Breitenau in Guxhagen (Schwalm-Eder).
Wiegand ließ nicht nur etliche ausländische Zwangsarbeiter nach Breitenau bringen. In mindestens einem Fall veranlasste er auch die Exekution eines Häftlings. Das belegen Akten der heutigen Gedenkstätte. Trotzdem stellte ihn der Bundesnachrichtendienst ein.
Zehn bis 20 Prozent mit "Blut an den Händen"
Solche zweifelhaften Karrieren kamen beim BND häufiger vor als bisher bekannt. Geheime Akten, die der Historiker Gerhard Sälter einsehen durfte, verraten, wie skrupellos der Geheimdienst nach 1945 Verbrecher des Nationalsozialismus rekrutierte. "Wir haben vorher gewusst, dass es den einen oder anderen Naziverbrecher beim BND gegeben hat", sagt Sälter. Er habe herausfinden wollen, wie diese Personen eine Hintertür in den Geheimdienst fanden. "Aber da hat sich überhaupt keiner reingeschlichen. Die Leitung hat diese Leute einfach gewollt."
Zehn Jahre lang durchkämmte Sälter Aktenberge für die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des BND. Inzwischen ist er sicher, dass zehn bis 20 Prozent der Mitarbeiter "Blut an den Händen" hatten. "Und das bedeutet nicht, dass sie irgendwelche NSDAP-Mitglieder waren, sondern dass sie sich aktiv und zum Teil auch leitend an Mordaktionen beteiligt haben."
Personalvermerk: "Anständiger Charakter"
Auch Referatsleiter Wiegand machte im Nachkriegsdeutschland Karriere. Aus Akten, die der hr in mehreren Archiven eingesehen hat, geht hervor, dass er ab 1954 für den Hessischen Verfassungsschutz und dann für das Bundesamt für Verfassungsschutz arbeitete. Nachdem Menschen mit Nazi-Vergangenheit dort nicht mehr willkommen waren, nahm ihn der BND auf.
So sei es häufig gelaufen, sagt Historiker Gerhard Sälter. Der langjährige Chef des Bundesnachrichtendiensts, Reinhard Gehlen, habe von der Entnazifizierung und den Nürnberger Prozessen gegen hochrangige NS-Verbrecher wenig gehalten. Mehr als 30 seiner Mitarbeiter hätten während des Zweiten Weltkriegs in den besetzten Ostgebieten mitgemordet. Etwa Gustav Grauer und Heinrich Schmitz aus dem rheinland-pfälzischen Trier, deren Einsatzkommando mehr als 130.000 Zivilisten, vor allem jüdischen Glaubens, im Baltikum tötete.
Oder Carl-Theodor Schütz, dessen Personalakte ihm einen "durch und durch anständigen Charakter" bescheinigte, obwohl er 1943 als Gestapo-Chef in Rom an einem der größten Weltkriegsverbrechen in Italien beteiligt war, der Erschießung von 335 Menschen in den Ardeatinischen Höhlen.
BND bevorzugt Nazis
Bei Einstellungen gab die BND-Leitung vor, in erster Linie "Personen in Betracht zu ziehen, die dem Bekanntenkreis bewährter Mitarbeiter entstammen und von diesen für ideologisch, menschlich und fachlich geeignet gehalten werden, an der großen Aufgabe mitzuwirken". So steht es in einer Anweisung der Zentrale an die untergebenen Dienststellen aus dem Mai 1947.
Aus einem anderen Schreiben des Referats "Beschaffung" von 1951 geht hervor, dass man im Gegensatz dazu Bedenken hatte, wenn ein Bewerber aus einer Familie kam, "die dem Nationalsozialismus von vornherein ablehnend gegenüber gestanden hat", oder seine Frau "aus einer jüdischen Familie".
Das zeige, dass es kein Bewusstsein gab, "dass es nicht in Ordnung war, Millionen von Juden zu töten, in Polen die Elite zu liquidieren, Massaker in nahezu jedem europäischen Land zu verüben", folgert Historiker Sälter.
Kanzleramtschef kaum an Aufarbeitung interessiert
1956 hätte es für Gehlen und seine Beschäftigten eng werden können. Der Auslandsnachrichtendienst wurde Bundesbehörde und war damit dem Bundeskanzleramt in Bonn mit dem damaligen Chef Hans Maria Globke (CDU) unterstellt. Doch Globke selbst stammte aus dem Exekutivapparat des NS-Regimes. Er sei "Hauptarchitekt der juristischen Bemäntelung der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden und ein Mittäter des Holocaust", sagt Klaus-Dietmar Henke, Sprecher der Unabhängigen Historiker- Kommission zur Geschichte des BND. Da ihm der Bundesnachrichtendienst bei der Vertuschung seiner Vergangenheit half, habe Globke kein Interesse daran gehabt, die Personalpolitik des Geheimdienstes zu unterbinden.
Die Justiz wurde dennoch auf einzelne BND-Mitarbeiter aufmerksam. 1960 wurde der ehemalige Kasseler Gestapo-Referatsleiter Wiegand wegen Beihilfe zum Mord an einem polnischen Zwangsarbeiter angeklagt.
Doch Wiegand kam nach kurzer Zeit aus der Untersuchungshaft frei. Er hatte sich auf seine Mitarbeit beim Geheimdienst berufen und am 28. November 1960 in einer Vernehmung ausgesagt, aus diesem Grund bestehe bei ihm keine Fluchtgefahr. Auch das ist in den Akten notiert.
Ermittlungen eingestellt
Die Leitung des Bundesnachrichtendiensts deckte ihre Mitarbeiter, wie der Historiker Sälter schildert. Anfragen aus dem Bundeskanzleramt habe man anonymisiert beantwortet oder einfach nicht die Wahrheit gesagt. "Wir wissen von Einzelfällen, in denen sich Mitarbeiter mit Wissen der Leitung des BND die Akten der Staatsanwaltschaft haben kommen lassen, um sie dann den Beschuldigten zugänglich zu machen, damit die Zeugenabsprachen treffen konnten", sagt Sälter.
Da Wiegand im Nationalsozialismus aufgewachsen sei, spreche viel dafür, "dass es ihm nicht möglich gewesen sein mag, einen eigenen kritischen Standpunkt zu beziehen, der ihn in die Lage versetzte, das Unrecht der Hinrichtungen zu erkennen", lautete schließlich das offizielle Ergebnis zum Fall Wiegand. Die Ermittlungen gegen ihn wurden eingestellt.
Erst 1963 überprüfte eine Kommission systematisch die BND-Mitarbeiter. 71 von rund 150 wurden daraufhin entlassen, unter ihnen auch der ehemalige römische Gestapo-Chef Carl-Theodor Schütz. Erich Wiegand von der Gestapo Kassel hingegen wurde nie belangt. Er starb 1964.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 10.10.2022, 19.30 Uhr
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