Jugendlicher schreibt über Holocaust-Überlebende Wie Luke das Leben von Ruth zusammenpuzzelt
Sie ist 15, als die Nazis sie deportieren. Er ist 15, als er anfängt, ihrer Geschichte nachzuspüren. Luke Schaaf aus Mittelhessen schreibt ein Buch über die Holocaust-Überlebende Ruth Wertheim. Sie wohnte einst im Nachbarort – die Spurensuche führt aber bis an die Elite-Uni Harvard.
Ein Besuch an der Gedenkstätte für jüdisches Leben in Rabenau-Londorf (Gießen). 15 graue Steinsäulen in einem Park neben einer starkbefahrenen Kreuzung. Ganz vorn am Eingang hängt die Plakette von Ruth Wertheim: Geboren 1927, deportiert 1942. Theresienstadt, Auschwitz, dann Merzdorf. Mit Kriegsende kommt die junge Frau frei. Ihre Eltern und ihre Schwester – zuvor getötet von den Nazis.
"Nachdem Ruth befreit wurde, hat sie versucht, Kontakt mit ihren Verwandten in den USA aufzunehmen. Ihnen musste sie erstmal erzählen, was mit ihrer Familie in den Konzentrationslagern passiert war. Wie ein 18-jähriges Mädchen das beschreibt, das war etwas ganz Schreckliches. Da musste ich erstmal schlucken", sagt Luke Schaaf. Der Teenager hat die Briefe an die Verwandten gelesen – für seine Recherche.
Buch-Release am Holocaust-Gedenktag
Luke Schaaf schreibt ein Buch über das Leben von Ruth Wertheim. Mehr als 100 Seiten soll es mal haben und am Holocaust-Gedenktag im Januar 2025 erscheinen. Gedruckt und digital. Finanziert wird das Erinnerungsprojekt aus Fördergeldern. Auch den Ehrenamtspreis der Stiftung Mittelhessen hat der Zehntklässler zuletzt gewonnen. 500 Euro – eine willkommene Unterstützung.
"Ich stecke alle Freizeit, die ich habe, in das Buch", erzählt Schaaf. Der 17-Jährige hat in Archiven recherchiert, Lokalhistoriker interviewt und die Familie der Holocaust-Überlebenden befragt. Seine Eltern haben manchmal fast das Gefühl, ihn bremsen zu müssen, sagen sie. Doch Luke Schaaf sagt: "Ich versuche, das Puzzle von Ruths Lebens zu füllen. Für mich ist das die Chance, ihrer Geschichte ein Stück Würde zurückzugeben."
"Aus Langeweile" angefangen
Angefangen hat alles an der Theo-Koch-Schule in Grünberg, die vor mehr als 30 Jahren eine der ersten im Netzwerk "Schule ohne Rassismus" war. Hier ist Luke Schaaf stellvertretender Schulsprecher, Lieblingsfach Geschichte. Als Lehrerin Christina Müller vor mehr als zwei Jahren Freiwillige für eine neue Forschungsarbeit sucht, sagt er dennoch erstmal "aus Langeweile" zu.
Über Wochen arbeiten die Jugendlichen das Leben von 40 Jüdinnen und Juden auf, die bis 1934 ihre Schule besucht haben. "Es ist wichtig, dass die Kinder lernen, dass Geschichte nicht einfach da ist, sondern von uns Menschen gemacht wird. Dass Erinnerung nicht einfach da ist, sondern dass sie Arbeit ist", sagt Lehrerin Müller. Sie ist stolz, dass ihr Schützling heute eigenständig weiterforscht.
Kontakt zu Harvard-Präsident
Zu Beginn des Projekts helfen die Lehrkräfte den Schülerinnen und Schülern, Kontakt zu Ruth Wertheims Hinterbliebenen herzustellen. Sie selbst ist schon 1994 verstorben. In den USA, wo sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Leben aufgebaut hat. Ihr Sohn Lawrence Bacow war lange Präsident der Elite-Universität Harvard. Dass er sich per Video-Call meldet, ist ein Erfolg, der auch Luke Schaaf nachhaltig beeindruckt.
Seither herrscht ein reger Austausch zwischen Harvard, Massachusetts, und dem 800-Seelen-Ort Rüddingshausen, wo der Teenager wohnt. Für die Sommerferien haben Ruth Wertheims Kinder ihn in die USA eingeladen. Sie sind dankbar, dass die Erinnerung an ihre Mutter wachgehalten wird. Bis kurz vor ihrem Tod habe sie selten über ihre Jugend gesprochen, bei Holocaust-Dokus immer weggeschaltet.
Details zur Familiengeschichte aufgedeckt
"Wir haben gelernt, dass unser Großvater, der Kopf der jüdischen Gemeinschaft in Londorf war und dass er im Chor gesungen hat", erzählt Lawrence Bacow. "Wir haben gelernt, dass unsere Mutter ein wunderschönes Puppenhaus hatte, das sie der Nachbarstochter geschenkt hat, als sie deportiert wurde." Auch Familienfotos seien wieder aufgetaucht – etwa eines, das seine Mutter in der zweiten Klasse zeigt.
Für den Wirtschaftswissenschaftler Bacow macht die Recherchearbeit "aus einem Namen und einem Foto eine echte Person." Seine Schwester Lainey Simonson ist voll des Lobes für die deutsche Erinnerungskultur – speziell an der Theo-Koch-Schule in Grünberg: "So verstehen diese Kinder wirklich, was damals passiert ist – und dass sich diese Geschichte niemals wiederholen darf."
Ruth Wertheim mit "unglaublicher Lebensfreude"
Verstanden hat der angehende Autor Luke Schaaf vor allem eines: Dass Hass und Hetze "beendet werden müssen", wie er sagt. Sein nächstes Projekt steht deshalb schon fest: Er will in die Kommunalpolitik einsteigen. Für welche Partei, das muss der 17-Jährige für sich selbst noch herausfinden. Im örtlichen "Jugendforum Nord" – einer Art Kinderparlament – engagiert er sich schon länger.
Erstmal muss aber das Buch fertig werden. Auf Deutsch übersetzt lautet der vorläufige Titel: "Ein Leben nach Auschwitz – Eine Geschichte von Resilienz". Wie vieles, was Schaaf sagt, ist auch dieser Titel mit Bedacht gewählt: "Ruth lebte mit einer unglaublichen Lebensfreude. Der dauerhafte Versuch, etwas Positives aus ihrer Zeit zu machen – darin ist sie ein Vorbild für mich."
Sendung: hr-iNFO, 04.06.2024, 13.45 Uhr
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