Interview mit Covid-Arzt Cihan Çelik "Wirklich verarbeitet haben wir die traumatischen Corona-Ereignisse nicht"

Fünf Jahre sind seit Beginn der Pandemie vergangen. Cihan Çelik, Leiter der Lungenheilkunde des Klinikums Darmstadt, behandelt bis heute Corona-Patienten. Was können wir aus jener Zeit für die Zukunft lernen?

Lungenfacharzt Dr. Cihan Çelik - er steht in einem Krankenhausflur - Glatze und kurz geschnittener Vollbart, er trägt ein weißes Oberteil, in der Brusttasche Stifte,
Lungenfacharzt Dr. Cihan Çelik Bild © Klinikum Darmstadt

Der Lungenfacharzt Cihan Çelik leistete während der Corona-Pandemie neben seinem Berufsalltag im Klinikum Darmstadt wichtige Aufklärungsarbeit. Dafür wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Fünf Jahre nach Pandemiebeginn blickt er zurück - auf eine Zeit im Ausnahmezustand, auf körperliche und psychische Belastungen für ihn und sein Team. Und er blickt voraus und erklärt, was wir aus dieser Krise für die Zukunft lernen können.

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Das Gespräch führte Dominik Nourney.

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Fünf Jahre Corona: Der Lungenfacharzt

Interview mit Lungenfacharzt in Klinik
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hessenschau.de: Der Beginn der Corona-Pandemie liegt nun fünf Jahre zurück. An was denken Sie zuerst, wenn Sie sich diese Zeit in Erinnerung rufen?

Cihan Çelik: Es sind zwei Dinge. Einmal denke ich natürlich an mein Team, das sich im Laufe der Jahre häufiger gehäutet hat. Es gab viele Kolleginnen und Kollegen - in der Pflege und auch in der Ärzteschaft -, denen war diese Arbeitsintensität einfach zu viel. Das konnte man auf Dauer nicht von jedem verlangen, in einem Drei-Schicht-System auf einer Isolierstation zu arbeiten, auf der wirklich viele Patienten gekommen und gegangen sind und viele starben. Daher gilt der erste Gedanke der psychischen Belastung, die das Team ertragen musste. Wie viel wir arbeiten mussten, wie viele Überstunden angefallen sind.

Auf der anderen Seite denke ich natürlich an die vielen, vielen Schicksale. Die vielen Fälle von Menschen, die so schwer betroffen waren von dieser Erkrankung. Zuerst die älteren Menschen, die bei uns betreut wurden und von denen es viele leider auch nicht überlebten. Dann ist der Altersschnitt immer weiter gesunken, je höher die Inzidenz gegangen ist. Es kamen Väter und Mütter dazu, um die ganze Familien gebangt haben. Es war eine sehr, sehr intensive Zeit.

hessenschau.de: Hatten Sie und Ihre Kollegen Gelegenheit, die Erlebnisse zu verarbeiten?

Çelik: Es gibt Momente, in denen man sich schütteln muss. Wenn vor dem inneren Auge Bilder davon auftauchen, was wir damals geleistet haben, dann denkt man sich manchmal: So wirklich verarbeitet haben wir diese traumatischen Ereignisse eigentlich nicht. Wir machen einfach immer weiter.

So ist aber auch der Krankenhausbetrieb. Man muss weiter funktionieren. Man kann sich nicht zurücklehnen und mal einen Blick zurückwerfen - diese Ruhe gibt es einfach nicht.

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Ich denke an die vielen, vielen Schicksale. Die vielen Fälle von Menschen, die so schwer betroffen waren von dieser Erkrankung.
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Seit fünf Jahren sind wir mit dieser Krankheit weiterhin beschäftigt. Es gab keinen Punkt, an dem wir sagen konnten: Jetzt ist Corona kein Thema mehr für uns. Bis heute betreuen wir weiter Corona-Patienten, teilweise auch mit schweren Verläufen.

hessenschau.de: Gibt es bei all den schrecklichen Erlebnissen auch etwas Positives, das Sie aus der Pandemie mitnehmen?

Çelik: Wenn man so eine Krise zusammen mit einem Team durchlebt, das wirklich entschlossen ist anzupacken - das ist ja sinnstiftend. Es war die wichtigste Aufgabe, die es zu diesem Zeitpunkt gab. Es gab den Lockdown, die meisten Menschen blieben zu Hause - wir kamen jeden Tag hierher und waren entschlossen, Menschenleben zu retten, Menschen zu helfen.

Diese sinnstiftende Arbeit, das ist bis heute natürlich im Prinzip das, was in der Medizin dafür sorgt, dass man trotz sehr schwerer Arbeitsbedingungen und hoher Arbeitsintensität und Belastungen diesen Job gerne macht. Während der Pandemie war das noch verstärkt: auf der einen Seite die Intensität der Arbeit, auf der anderen Seite dieses Sinnstiftende.

hessenschau.de: Das Thema Corona wird oft politisch besetzt. Die unterschiedlichen Meinungen zur Gefährlichkeit des Virus und zu den Maßnahmen haben zu einer Spaltung beigetragen. Wie geht es Ihnen, wenn Sie das sehen?

Çelik: Man sieht jetzt, dass die Geschichte der Pandemie ein Stück weit umgeschrieben werden soll durch verschiedene Narrative. Das ist mein Eindruck. Wir haben hier in der Klinik in den vergangenen fünf Jahren alle Phasen der Pandemie hautnah mitbekommen. Die Gefahr, die die Erkrankung heute darstellt, ist nicht zu vergleichen mit damals.

Das geht aber in der öffentlichen Diskussion durcheinander, und das versuchen manche politischen Strömungen auch zu nutzen. Es wird so getan, als ob Covid heute dasselbe wäre wie damals. Das ist aber nicht der Fall.

Ich kann verstehen, dass Traumabewältigung auch ein Stück weit bedeutet, zu vergessen und zu verdrängen. Aber genau in diese Bresche springen dann alternative Erzählungen, die versuchen, die Geschichte umzudeuten. Und dagegen muss man deutlich etwas sagen.

hessenschau.de: Es gibt Menschen, die den Eindruck haben, die Wissenschaft wurde genutzt, um politisch etwas durchzuboxen. Wie erleben Sie das?

Çelik: Für manche Menschen ist das so eine ganze Maschinerie, so eine Blackbox, die irgendwelche Entscheidungen getroffen hat, die ihr Leben beeinflusst haben. Man möchte nicht so ganz differenzieren zwischen Politik, Wissenschaft, klinischer Arbeit, Pharma und so weiter. Man nimmt das als einen Wust mit einer vielleicht dunklen Agenda wahr. Ich glaube, es wird schwierig, da mit Argumenten ranzukommen, wenn derjenige schon so ein geschlossenes, fest zementiertes Weltbild hat.

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Es wird so getan, als ob Covid heute dasselbe wäre wie damals. Das ist aber nicht der Fall.
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Der einzige Punkt, an dem ich das Gefühl habe, dass man noch an die Menschen rankommt, ist das Vier-Augen-Gespräch auf Augenhöhe, das Arzt-Patienten-Gespräch. Ich muss mir mit einem Patienten nicht einig sein und ich betreue auch jetzt immer noch Patienten, die sich dem Querdenken-Milieu angehörig fühlen. Trotzdem schafft man es, eine gewisse Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient aufzubauen, wenn man den Patienten überzeugen kann, dass das einzige, was mir jetzt gerade wichtig ist, seine Gesundheit ist.

hessenschau.de: Man hört oft: Die Impfung hat nichts gebracht, ich bin trotzdem krank geworden. Was können Sie dem entgegnen?

Çelik: Wir haben bisher an die 6.000 Patienten mit Corona in diesem Haus behandelt. Wir haben also einen großen Erfahrungsschatz, und daher ist es gar keine Frage für mich, dass die Impfung der ausschlaggebende Punkt war - gemeinsam mit der steigenden Immunisierung in der Bevölkerung -, der uns aus der Pandemiesituation herausgeführt hat.

Es stimmt, dass Menschen gedacht haben, sie würden sich auch vor einer Infektion schützen, wenn sie sich impfen. Das hat leider nicht so stark und auch nicht so lang anhaltend funktioniert. Aber der wichtige, ausschlaggebende Punkt für die Kliniken war natürlich, dass die Zahl der schweren Verläufe geringer wird.

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Viele Menschen sind gestorben, auch weil sie ungeimpft waren.
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In der Zeit nach Beginn der Impfkampagne, als es noch viele Menschen gab, die nicht geimpft waren und noch keine Infektion hatten, war unsere Station voll mit ungeimpften Patienten. Später dann, als die ungeimpften Menschen einen kleineren Teil der Gesamtbevölkerung darstellten, waren sie der überwiegende Teil unserer schwerbetroffenen Patienten auf Station. Viele Menschen sind gestorben, auch weil sie ungeimpft waren.

Das war eine sehr prägende Zeit für uns. Das ist etwas, wozu Aufklärung wichtig ist. Es ist wichtig, den Menschen zu erzählen, dass wir das sehr deutlich gesehen haben.

hessenschau.de: Was hätten Sie sich rückblickend gewünscht?

Çelik: Ich hätte mir gewünscht, dass die Kommunikation von politischer Seite transparenter und klarer gewesen wäre. Ich hatte das Gefühl, dass es zwischenzeitlich für die Menschen nicht mehr unterscheidbar war: Was ist jetzt eine medizinische oder wissenschaftliche Argumentation, und was ist die politische Interpretation dessen?

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Man hätte auch sagen können, wir machen weniger Maßnahmen. Aber dann muss man natürlich auch klar kommunizieren: Das kostet uns was.
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Die Mediziner und die Wissenschaftler sollten beraten, aber die Entscheidungen mussten die Politiker nach entsprechender Priorisierung dieser Argumente treffen. Das ist auch legitim.

Jede Entscheidung hat ihre Kosten und Nutzen. Man hätte auch sagen können, wir machen weniger Maßnahmen. Aber dann muss man natürlich auch klar kommunizieren: Das kostet uns was. Wir nehmen das Risiko von mehr Infektionen in Kauf, vielleicht auch von mehr Todesfällen. Dieses Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, da ist viel verschwommen. Da braucht man mehr Trennschärfe.

hessenschau.de: Sind wir durch unserer Erfahrungen mit Corona jetzt besser auf ein neues Virus vorbereitet?

Çelik: Man muss, was die Lehren aus der Pandemie angeht, ganz ehrlich sein. Wir wissen nicht, welches die nächste Pandemie sein wird. Es gibt viele Variablen: Wie ansteckend ist das Virus? Wie tödlich ist es? Wie ist es mit den Kindern? Zum Beispiel wurde ja oft über die Schulschließungen gesagt, sie würden keinen Sinn machen. Das kann bei der nächsten Pandemie ganz anders sein, wenn Kinder stärker betroffen sind und schwere Verläufe haben.

Das heißt, wir haben ein ganzes Sammelsurium an theoretischen Mitteln, die wir anwenden können. Aber welche effektiv sein werden, das kommt ganz darauf an, welcher Erreger es sein wird.

Was wir aber an Lehren haben, sind natürlich die theoretischen Möglichkeiten. Die Möglichkeiten, die der Gesetzgeber hat. Die Möglichkeiten, die wir Kliniken haben und was wir bewältigen können. Wir im Gesundheitsbereich wissen, wie belastbar wir in einem absoluten Notfall sein können. Aber wir wissen auch, wo die Limits sind.

Redaktion: Tanja Stehning

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de