Der älteste praktizierende Arzt in Hessen Ein Leben für seine Patienten
Yahia Chichakli ist Hausarzt in Rüsselsheim. Im Januar wird er 90 Jahre alt. Er ist somit Hessens ältester praktizierender Arzt. Im Ruhestand hat er es nur ein halbes Jahr ausgehalten – zu langweilig!
Seine Augen haben zigtausende Patientenakten studiert, seine Hände unzählige Patienten berührt und geheilt. Der syrisch-stämmige Arzt Yahia Chichakli empfängt seine Patienten nicht im Arztkittel. Er trägt einen braunen Pullover, grüßt freundschaftlich und gerne auch mit einem Scherz.
"So, hübsche Dame", sagt er zu Monika Wolf, die zur Besprechung ihrer Blutwerte gekommen ist. Ihrem Mann Hubertus zwinkert er zu: "Nicht eifersüchtig sein, Schatzi! Wir kennen uns ja schon lange."
Viel Lachen und noch mehr Zeit
In seinem Behandlungsraum wird viel gelacht. Chichakli tätschelt immer wieder sanft den Arm seiner Patientin. Wenn er sie anspricht, sagt er du und im nächsten Satz Sie und dann wieder du.
Monika Wolf fühlt sich bei ihm sichtlich wohl: "Die meisten Ärzte nehmen sich nicht so viel Zeit wie er. Er erklärt auch immer alles ausführlich." Er sei menschlich, "ein richtig lieber Typ". Nur Geduld müsse man manchmal als Patient mitbringen. "Er macht nämlich keine festen Termine."
"Hier oben ist noch alles da!"
Yahia Chichakli lächelt seine Patientin an. "Ich bleibe jung durch euch! Mit 90 darf man ein bisschen Bluthochdruck haben und Probleme mit der Wirbelsäule, aber ich bin zufrieden. Hier oben ist noch alles da", sagt er lachend und tippt auf seine Stirn. Warum er nach so vielen Jahren immer noch gern als Arzt praktiziert? Für ihn sei es wichtig, immer unter Menschen zu sein. "Wenn ich mit ihnen spreche und ihnen helfen kann, das ist für mich genügend."
Für mich ist der Patient, das Menschenleben, wichtiger als alles andere. Zitat von Yahia ChichakliZitat Ende
Seinem Alter zollt er trotzdem Tribut: Er macht zum Beispiel keine Hausbesuche mehr, weil er die schwere Arzttasche kaum noch tragen kann. Nach vier Bandscheiben-Operationen läuft Chichakli leicht gebückt. Er kenne seine Grenzen, betont er. Als er jünger gewesen sei, habe er fast 24 Stunden am Tag gearbeitet. "Das geht nicht mehr, heute arbeite ich weniger. Ich will die Menschen ja vernünftig behandeln und keine Fehler machen."
Bewegtes Leben als Arzt in Klinik und Knast
Yahia Chichakli ist ein Neujahrskind, am 1. Januar feiert er seinen 90. Geburtstag. Mit 22 Jahren kommt er aus Syrien zum Studieren zuerst nach Österreich, wenig später dann nach Deutschland.
Er stammt aus einer Ärzte-Dynastie, auch sein eigener Sohn und seine zwei Töchter sind heute Mediziner. In seiner langen Karriere erlebt er viele spannende Stationen: etwa als Funktionsoberarzt an einer Stoffwechselklinik in Bad Mergentheim in Baden-Württemberg und als Vertretungsarzt in der Justizvollzugsanstalt in Weiterstadt (Darmstadt-Dieburg).
Für ihn eine positive Erfahrung: "Wenn man die Gefangenen dort freundlich behandelt – menschlich – dann kann man viel erreichen." Was sie draußen getan hätten, welche Fehler sie vielleicht begangen hätten, gehe ihn nichts an. "Ich bin kein Richter, ich bin Arzt."
Wiedereinstieg nach einem halben Jahr Ruhestand
Nachdem er 17 Jahre lang als Hausarzt mit großer Praxis in Kelsterbach (Groß-Gerau) gearbeitet hat, überredet ihn seine Frau im Jahr 1997, mit 63 Jahren, aufzuhören. Doch im Ruhestand hält Chichakli es nur ein knappes halbes Jahr aus. "Zu Hause liest man, man sieht fern, man hört Musik. Aber das kann ich doch nicht jeden Tag machen", sagt er und schüttelt energisch den Kopf.
"Unter Menschen zu kommen, ihnen zu helfen, ist viel schöner." Daher macht er weiter – und liegt damit voll im Trend. In Hessen gibt es immer mehr Ärztinnen und Ärzte, die auch mit Ü65 weiterarbeiten.
Immer mehr Hausärzte im Rentenalter noch aktiv
Laut Kassenärztlicher Vereinigung Hessen ist ihr Anteil von 7,5 Prozent im Jahr 2012 konstant auf 17,4 Prozent im Oktober 2023 gestiegen. Das entspricht aktuell 756 Ärztinnen und Ärzten im Alter zwischen 65 und 89 Jahren.
Über ihre Beweggründe gebe es keine Untersuchungen, so ein KV-Sprecher. Naheliegend sei die Vermutung, dass auch die schwieriger werdende Suche nach einem Praxisnachfolger viele zum Weitermachen bewege: "Viele Ärztinnen und Ärzte möchten aus Verantwortung gegenüber ihren Patientinnen und Patienten ihre Praxis nicht schließen, ohne ihre Nachfolge und die weitere Patientenversorgung sicherzustellen."
Darüber hinaus spiele sicherlich auch die Leidenschaft für den Beruf und die zunehmende Vitalität im Rentenalter eine Rolle.
Schmerzen in der Muttersprache Arabisch erklären
Um die Weiterversorgung seiner Patienten muss Chichakli sich wenig Sorgen machen: Mit einem Versorgungsgrad von über 105 Prozent steht der Planungsbereich Rüsselsheim im hessischen Vergleich laut KV gut da. Dort praktizierten aktuell 117 Ärztinnen und Ärzte in 64 Hausarztpraxen. Der fast 90-Jährige macht trotzdem weiter, weil er Spaß daran hat.
In seiner kleinen Praxis betreut er rund 2.000 Patientinnen und Patienten, darunter auch viele aus dem arabischsprachigen Raum. So wie Abdulraham Aljammal, der aus Syrien stammt. Nach einem operierten Leistenbruch liegt er jetzt mit leichten Schmerzen auf der Liege im Behandlungszimmer. Mit routinierten Bewegungen klopft der Internist behutsam den Unterbauch ab.
Die beiden sprechen Deutsch miteinander. Es sei aber enorm hilfreich, dass sein Arzt ihn auch in seiner Muttersprache verstehe, betont Aljammal: "Manchmal fällt es mir schwer auf Deutsch zu erklären, wie sich Schmerzen genau anfühlen. Ist das ein strahlender Schmerz, ein stechender Schmerz? Das ist viel einfacher in der Muttersprache."
Ein Arzt, der auch kochen kann
Freizeit hat der fast 90-Jährige nur wenig. Die verbringt er gern mit seiner Familie, den fünf Enkelkindern, und mit Kochen – am liebsten Arabisch. "Und das sogar sehr gut", lobt sein Sohn Maruan Chichakli.
Dass sein Vater heute der älteste praktizierende Arzt Hessens ist, mache ihn schon ein bisschen stolz. "Früher waren wir eher sauer, dass er seine Rente nicht genießt und die Arbeit endlich mal sein lässt", gibt er zu. "Aber wir haben gemerkt: Wenn er arbeitet und einen geregelten Alltag hat, ist mein Vater entspannter." Solange es ihm gut gehe und er Spaß dran habe, solle er es machen.
Meine Patienten sind wie eine Familie für mich! Zitat von Yahia ChichakliZitat Ende
Seine Mitarbeiterinnen um sich zu haben – "seine Damen", wie er sie nennt – und seine Patienten seien für ihn extrem bedeutend. "Für mich ist der Patient, das Menschenleben, wichtiger als alles andere", sagt Chichakli und wird kurz ernst.
"Ich möchte gern das Vertrauen eines Menschen haben. Mit Vertrauen kann er alles erzählen." Er betrachte seine Patienten wie eine Familie. Die älteren seien seine Schwestern und Brüder, die jüngeren wie seine Kinder.
Wie lange er noch als Arzt arbeiten will? "Solange es mein Kopf und Körper mitmachen", sagt er grinsend.
Sendung: hr-iNFO, 28.11.2023, 9.40 Uhr
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