Chronologie des Woolrec-Skandals Vom Vorzeigeprojekt zur Recycling-Lüge
Gefährlicher Sondermüll wird zu einem Zusatzstoff für Ziegel verarbeitet: Was als staatliche geförderte Innovation geplant ist, endet im mittelhessischen Braunfels-Tiefenbach im Fiasko. Die Folgen des Woolrec-Skandals sind bis heute unklar. Eine Chronologie.
Diese Idee begeistert sogar die früheren Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) und Jürgen Trittin (Grüne): Insgesamt 550.000 Euro an Innovationsgeldern fließen an die 2002 gegründete Recycling-Firma Woolrec. In Braunfels-Tiefenbach (Lahn-Dill) wird seinerzeit eine Anlage gebaut, die unter Einsatz einer Hightech-Mühle aus Sondermüll einen unschädlichen Stoff zur Verbesserung der Eigenschaften von Ziegeln herstellen soll.
Im Jahr 2003 erteilt das Regierungspräsidium (RP) Gießen die Genehmigung zur Produktion von sogenanntem Woolit. Tonnenweise werden daraufhin Sondermüll-Dämmstoffabfälle in das 1.000-Einwohner-Dorf Tiefenbach transportiert. In unmittelbarer Nähe zu Wohnhäusern verarbeitet Woolrec die belasteten Mineralfasern. Das fertige Woolit wird weiter an Ziegeleien geliefert.
Doch das vermeintliche Vorzeigeprojekt entpuppt sich schließlich als Recycling-Lüge um fingierte Produktionsprozesse, falsche Gutachten und zögerliche Behörden. Der Woolrec-Skandal sorgt bundesweit für Schlagzeilen. Sieben Jahre nach der Schließung des Betriebs wurden der frühere Geschäftsführer Edwin F. und der Gutachter Stefan G. am Donnerstag vor dem Gießener Landgericht zu Geldstrafen verurteilt. Die Chronologie der Ereignisse:
April 2011
Nach jahrelangen Nachforschungen und mehreren selbst in Auftrag gegebenen Gutachten wird der Widerstand der Tiefenbacher gegen Woolrec immer größer. Rund 60 Mitglieder einer Interessensgemeinschaft protestieren vor dem Werksgelände und machen so eine breitere Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam. Die Bürger fürchten eine Krebsgefahr durch fehlende Sicherheitsvorkehrungen und mangelhafte Verarbeitung der Gefahrenstoffe. Manche klagen bereits über gesundheitliche Probleme.
Februar 2012
Der hr bringt den Fall ins Rollen: Eine eingereichte Probe stuft das Fresenius-Institut als "krebserzeugend" ein und widerspricht damit den Ergebnissen eines Gutachters der Universität Gießen, der das Produkt bei regelmäßigen Kontrollen als unbedenklich deklariert. Die hr-Recherchen führen zu einer Ziegelei in Nordrhein-Westfalen, die Woolit lagert und verarbeitet. Auch hier warnt eine folgende Untersuchung vor Mineralfasern, die an die Umgebung abgegeben werden. Die Weiterverarbeitung wird sofort gestoppt.
April 2012
Die Anwohner gehen angesichts der neuen Entwicklungen wieder auf die Straße. "Wir haben Angst um unsere Kinder", sagt Elisabeth Schneider von der Interessensgemeinschaft Tiefenbach. Mehrfach sei gelber Faserstaub an Fenstern und in den Gärten hängengeblieben. Eine Gesundheitsgefahr bestreitet der Gießener Gutachter Stefan G. in einem neuerlichen vom RP Gießen verlangten Bericht: "Von Woolit geht keine Gefahr aus", heißt es darin trotz inzwischen anderslautender Ergebnisse. Problematisch: G. ist Mitentwickler des Produkts Woolit.
Mai 2012
Nach den unterschiedlichen Gutachten nimmt das bislang zögerliche RP den Fall erneut unter Lupe und stellt bei der Überprüfung der verwendeten Materialien der vergangenen Jahre eine deutliche Abweichung zur genehmigten Zusammensetzung von Woolit fest. Die vorgeschriebene Beimischung von Ton und Melasse zu den Fasern sei nicht oder in einem deutlich geringeren Umfang erfolgt.
Bei dem produzierten Material handele es sich nicht um ein Produkt, sondern um Abfall, erklärt Regierungspräsident Lars Witteck und untersagt dem Unternehmen, weiter solches Woolit herzustellen und es wie bisher an die Ziegelindustrie zu verkaufen. Die Staatsanwaltschaft Limburg ermittelt mittlerweile wegen des Verdachts der Luftverunreinigung.
Mai bis September 2012
Trotz der offensichtlichen Täuschung bei der Produktion darf Woolrec vorerst weiterhin die Verwertung und Verarbeitung von Mineralwolle als Abfall vornehmen. Für die Entsorgung des im nordrhein-westfälischen Olfen gelagerten Woolits soll das Braunfelser Unternehmen allerdings zahlen. Das Gießener Verwaltungsgericht bestätigt die vom Regierungspräsidium verhängte Maßnahme ab. Die Entsorgung der 3.000 Tonnen Sondermüll werden Woolrec mit rund 180.000 Euro in Rechnung gestellt.
21. September 2012
Woolrec wird der Betrieb vorläufig untersagt. Ein Radlader reißt bei einem Unfall ein mehrere Meter großes Loch in die Außenwand der Anlieferhalle. Mineralfasern könnten nach außen dringen, urteilt das Regierungspräsidium bei einer Kontrolle und fordert eine fachmännische Reparatur. Solange dürfe der Betrieb auch keine Abfälle aus künstlichen Mineralfasern mehr annehmen. Was die Anwohner ärgert: Das provisorisch abgedeckte Loch ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Tagen bekannt und auch dem RP umgehend gemeldet worden.
26./27. September 2012
Nach Dioxin-Funden wird das Woolrec-Werk bis auf Weiteres stillgelegt. "Aufgrund der jetzt vorliegenden Erkenntnisse war die sofortige Stilllegung bis zu einer endgültigen Klärung der ermittelten Werte unerlässlich", sagt RP-Chef Witteck. Tags darauf steht fest: Die gemessene Dioxin-Belastung liegt unter dem gesetzlichen Grenzwert. Dennoch bleibt die Recycling-Firma zunächst geschlossen.
Oktober 2012
Vor dem Umweltausschuss des Landtags spricht sich Regierungspräsident Witteck für die dauerhafte Schließung des Woolrec-Werks aus. "Wir haben kein Vertrauen mehr in das Unternehmen", sagt er.
November 2012
Wieder gibt es Streit um unterschiedliche Gutachten. Während das Landeslabor bei der Untersuchung von Äpfeln, Tomaten und Salat rund um den Woolrec-Standort keine bedenkliche Schadstoffbelastung feststellt, kommt ein unabhängiger Gutachter zu einem völlig anderen Ergebnis: Die Werte für krebserregende Dioxine und dioxinähnliche PCBs im Tiefenbacher Obst und Gemüse lägen 10- bis 20-fach über den jemals in Deutschland gemessenen Maximalwerten. Die Anwohner sind geschockt, doch das Landeslabor bleibt bei seiner Einschätzung: Das andere Gutachten sei schlicht falsch.
Januar 2013
Noch einmal sorgt das Verwaltungsgericht Gießen für Aufregung in Tiefenbach: Die vorläufige Woolrec-Stilllegung wird wieder aufgehoben. Das Gericht stützt sich bei seiner Entscheidung auf die Untersuchungsergebnisse des Landeslabors, das keine Schadstoffbelastung durch Woolit feststellte.
Februar 2013
Das Aus ist besiegelt: Woolrec verzichtet auf einen Weiterbetrieb und unterzeichnet eine entsprechende Vereinbarung mit dem Regierungspräsidium Gießen. Mit dem sofortigen Erlöschen der Betriebserlaubnis ist die Verarbeitung des gefährlichen Dämmmaterials rechtlich nicht mehr möglich. Woolrec verpflichtet sich zudem, den Standort bis Jahresende so zu hinterlassen, dass keine Schäden für Umwelt oder Nachbarschaft entstehen.
September 2014
Zwei Jahre nach der vorübergehenden und letztlich dauerhaften Schließung von Woolrec bringt eine hr-Recherche neue Details der fingierten Produktionsprozesse ans Tageslicht. Demnach stammen die den Behörden zu Betriebsstart präsentierten Woolit-Kugeln nicht aus einer Hightech-Mühle, sondern aus dem Fleischwolf des Firmenchefs. Die Kügelchen seien von Edwin F. zu Hause von Hand geformt und zu Werbezwecken mit Gelatine aus dem Supermarkt angerührt worden, berichten ehemalige Mitarbeiter. Dennoch erhält das Unternehmen die Erlaubnis zur Massenproduktion. Bei späteren Kontrollen bescheinigt Prüfer Stefan G. die Korrektheit des Produkts.
Dezember 2014
Die Staatsanwaltschaft Gießen erhebt Anklage gegen den ehemaligen Woolrec-Chef Edwin F. und Gutachter Stefan G. von der Universität Gießen. Ihnen wird unerlaubter Umgang mit Abfällen in über 50 Fällen vorgeworfen.
Januar 2018
Unter großem öffentlichen Interesse startet vor dem Landgericht Gießen die Verhandlung gegen die beiden Angeklagten. "Es ist ein Riesenerfolg für uns, dass es überhaupt zum Prozess gekommen ist", sagt die ebenfalls im Gerichtssaal anwesende Elisabeth Schneider von der Interessensgemeinschaft Tiefenbach, die jahrelang gegen Woolrec kämpfte. In dem mittelhessischen Dorf geht bis heute die Angst vor den Spätfolgen um: "Man weiß, dass Dioxin-Wirkungen oft erst nach Jahrzehnten entstehen", so Schneider. Auch eine mögliche Gefahr durch die Beimischung von Woolit in Ziegelsteinen ist unklar.
16. Oktober 2019
Nach zahlreichen Verhandlungstagen mit etlichen Zeugen und Sachverständigen nähert sich der Prozess seinem Ende. Die Staatsanwaltschaft fordert in ihrem Plädoyer Geldstrafen von insgesamt rund 80.000 Euro für die Angeklagten, die Verteidiger plädieren auf Freispruch. Edwin F. äußert sich im gesamten Verfahren nicht zu den Vorwürfen. Stefan G. bestreitet seine Schuld: Das Regierungspräsidium sei stets informiert gewesen.
24. Oktober 2019
Edwin F. und Stefan G. werden vom Landgericht Gießen zu Geldstrafen verurteilt: Der Ex-Geschäftsführer muss 17.150 Euro Strafe (490 Tagessätze zu 35 Euro) bezahlen, der Gutachter knapp 52.500 Euro (350 Tagessätze zu 150 Euro). Das Gericht sprach die beiden Angeklagten des unerlaubten Umgangs mit gefährlichen Abfällen beziehungsweise der Beihilfe dazu schuldig. Die Richter waren überzeugt, dass sich die Angeklagten bei der Herstellung eines aus gefährlichen künstlichen Mineralfasern bestehenden Produktes nicht an Behördenvorgaben gehalten haben.
Sendung: hr-iNFO, 24.10.2019, 20.15 Uhr