Deutsch-ukrainische Freundschaft Und plötzlich sitzen jeden Abend sieben statt vier Personen am Tisch
Im Frühjahr nahmen viele Familien in Hessen ukrainische Geflüchtete bei sich auf. Bei den Eberts aus Frankfurt und den Köpfs aus Hofheim ist das Zusammenleben herzlich abgelaufen - bis heute.
Auf dem Esstisch von Familie Ebert liegen einige Kuchenstücke. Gedeckt ist für sieben Personen. Sie feiern an diesem Sonntag im November Yuliia Bohdanets' 37. Geburtstag. Vor acht Monaten floh sie mit ihren zwei kleinen Töchtern vor dem Krieg in der Ukraine nach Frankfurt. Bei Familie Ebert im Stadtteil Sachsenhausen fanden die drei vorübergehend ein Zuhause. Inzwischen haben sie eine eigene Wohnung im Stadtteil Sossenheim, doch der Kontakt blieb bestehen.
Die Kinder springen immer wieder an den Tisch, um sich ein Stück Kuchen zu gönnen, ansonsten spielen sie viel zusammen. Dass Yuliia Bohdanets' Töchter erst wenig Deutsch sprechen, hindert sie gar nicht daran. Als Inga Ebert anfängt, von der neu gewonnenen Freundschaft zwischen den Mädchen zu erzählen, springt ihre acht Jahre alte Tochter Lilo in die Arme der ein Jahr älteren Vlada, als wären sie Schwestern.
"Ich hab' schnell gemerkt, hier kommen wir zur Ruhe"
Yuliia Bohdanets und ihre Kinder sind drei von knapp 88.000 Menschen, die nach Auskunft des Innenministeriums in Wiesbaden seit Februar aus der Ukraine nach Hessen geflüchtet sind. Die meisten kamen unmittelbar nach Kriegsausbruch. Genauso wie Familie Bohdanets aus Chmelnyzkyj, einer Stadt zwischen Lwiw und Kiew.
Mehr als einen Videocall gab es zum Kennenlernen vorher nicht, wie Inga Ebert erzählt. Dennoch sei sie entspannt gewesen. "Es waren Gäste, die ich vom Bahnhof abholte und zu denen ich sagte: Schmeißt den Koffer in den Kofferraum, wir fahren jetzt nach Hause", erinnert sie sich. Im Haus der Eberts gab es plötzlich einen gemeinsamen Alltag mit sieben statt vier Personen.
Yuliia Bohdanets schätzte sich glücklich, dass die Eberts auch zwei Kinder haben, wie sie sagt: "Ich habe mich sehr gefreut, dass die Kinder zusammenspielen. Ich hatte viel Stress und ich hab’ schnell gemerkt, wir kommen hier zur Ruhe."
So gut wie jeden Abend aßen die beiden Familien zusammen. Wenn Yuliia Bohdanets ihren Kindern selbst etwas kochte, wurde es deutlich später. "Dass sie auch mal abends um elf noch mal kochen, das war kein Problem, aber doch eine neue Erfahrung", erinnert sich Michael Ebert.
"Du kannst nicht irgendwas vorgeben"
Die ersten Tage mussten sie sich aneinander gewöhnen, erzählen beide Familien - und wie könnte es anders sein. Yuliia Bohdanets und ihre Kinder haben einen anderen Rhythmus, sind viel länger wach und stehen später auf. "Da musste man sich schon auch umstellen. Du kannst ja nicht irgendwas vorgeben", erzählt Inga Ebert. Schnell war klar, dass die Kindererziehung in beiden Familien ganz unterschiedlich abläuft. "Aber wir haben uns gegenseitig respektiert und hatten Verständnis füreinander, egal wie man es selbst gemacht hätte", stellt Inga Ebert klar.
Aus Respekt vor ihren Gastgebern zogen sich die Ukrainerinnen nach dem gemeinsamen Abendessen gegen 20 Uhr in ihr Zimmer zurück. "Wenn du Gast bist und du sehr dankbar bist für die Familie, dann denkst du, sie sollten auch ihre Zeit alleine noch haben", sagt Yuliia Bohdanets.
"Die Bürokratie war ein Albtraum"
Probleme hatten die beiden Familien eher mit Behörden, als sie sich um den Papierkram kümmern mussten. "Die Bürokratie war wirklich ein Albtraum. Es gab viele Sachen, bei denen ich gedacht habe, das ist doch ein Irrsinn", blickt Inga Ebert zurück. Aber die vielen Termine bei den Ämtern waren eben notwendig, denn die Ukrainerinnen waren weder gegen Corona geimpft noch hatten sie zunächst die nötigen Aufenthaltsdokumente, ein deutsches Bankkonto oder eine Sim-Karte fürs Handy.
Inga Ebert nahm sich dafür Zeit, arbeitete in der Zeit weniger. Knapp einen Monat lang lebten Yuliia Bohdanets und die Mädchen in ihrem Haus, danach nahmen Freunde der Eberts sie auf, die den Geflüchteten einfach mehr Platz bieten konnten. Und die Eberts hatten dann auch wieder mehr Platz für sich. Aber unterstützt haben sie ihre neuen ukrainischen Freunde weiterhin.
"Wir wollen Verantwortung übernehmen"
Gerade im Frühjahr nahmen viele Familien in Frankfurt und an anderen Orten in Hessen ukrainische Geflüchtete bei sich auf. Es scheint, dass wir uns in Kriegszeiten besonders stark solidarisieren und aktiv werden. Das beobachtet auch die Sozialwissenschaftlerin Ines Grau vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Frankfurt. Der Grund dafür sei Betroffenheit über eine Katastrophe wie den Ukraine-Krieg. Viele wollen dieser Ungerechtigkeit etwas entgegensetzen, wie die Expertin erklärt: "Viele Menschen sind schlichtweg entsetzt, schockiert." Sie fühlten sich zunächst handlungsunfähig und würden dann aktiv. "Wir wollen Verantwortung übernehmen und fühlen uns dadurch wieder handlungsfähig, eben nicht machtlos", erklärt Grau.
Inga und Michael Ebert war es besonders wichtig, ihren Kindern zu zeigen, dass es gut ist zu helfen und zusammenzuhalten. Und dass es kein Problem ist, sich auch mal einzuschränken. "Wir könnten ja auch jederzeit in eine Situation kommen, in der man so etwas bräuchte. Dann würde man auch darauf hoffen, Menschen zu finden, die einem helfen", sagt Inga Ebert. "Außerdem", sagt Michael Ebert lächelnd, "haben wir einen großen Esstisch, und der hat sich endlich mal gelohnt, weil er voll besetzt war." Tochter Lilo ergänzt: "Und ich hab' mir schon immer mal gewünscht, mehrere Geschwister zu haben, und jetzt hatte ich die Gelegenheit!"
"Dass Menschen einander helfen, ist ja ein grundlegender Wesenszug von uns", sagt Sozialwissenschaftlerin Grau. Man tue dadurch aber auch etwas für sich selbst. "Ein Stück weit möchte ich auch, dass mir jemand hilft, wenn ich mich mal in so einer Situation befinde", erklärt die Expertin. Auf die Art verarbeite man auch einen Konflikt wie in dem Fall den Ukraine-Krieg ein Stück weit.
"Es stand nie zur Debatte, dass wir nicht helfen"
Den Kindern beibringen, dass es kein Problem ist, sich mal einzuschränken und zu teilen, wollte auch das Ehepaar Köpf aus Hofheim. Wie die Eberts in Frankfurt nahmen sie unmittelbar nach Kriegsausbruch Geflüchtete auf. Ein halbes Jahr lang wohnten sie mit Uliana Tiurina und ihren beiden Töchtern zusammen. Den Kontakt stellte ihre Kirchengemeinde her, schon kurze Zeit später standen die drei Ukrainerinnen vor der Haustür.
"Als ich Melanie, Alex und die Kinder gesehen habe, hab ich mich sehr gefreut. Sie sahen sehr nett aus", erinnert sich Uliana Tiurina bei einem Gespräch über Skype. Aktuell sind die drei wieder in ihrer Heimatstadt Kolomea in der Nähe der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk. Ulianas Vater ist gestorben, sie hilft ihrer Mutter. Doch sobald sie könne, wolle sie zurück nach Deutschland, erzählt sie.
"Es stand nie zur Debatte, dass wir da nicht helfen würden", blickt Alex Köpf auf das Frühjahr mit all seinen Kriegsnachrichten zurück. Er und seine Familie versuchten, die Ukrainerinnen in ihren Alltag zu integrieren: "Wir haben sie auf alle Ausflüge mitgenommen und zu Hobbys, also zum Tennis oder Reiten." Damit alle mitkommen konnten, organisierten sie ein größeres Auto. Sie feierten zusammen Feste, zum ersten Mal gab es Borschtsch-Suppe im Hause Köpf, ein traditionelles ukrainisches Gericht. Die deutsche Familie lernte die ukrainische Nationalhymne.
"Wir haben auch von ihnen gelernt"
"Es war schon eine sehr intensive Zeit, eine tolle Zeit, weil es irgendwie auch von blindem Vertrauen geprägt war", findet Alex Köpf im Nachhinein. Seine Frau Melanie ergänzt: "Wir haben uns viele Gedanken gemacht, wie wir helfen oder sie zum Lachen bringen können. Es war nicht nur so, dass wir gegeben haben, sie haben uns auch viel gegeben. Und wir haben auch von ihnen gelernt." Die beiden Familien freundeten sich an.
Durch die vielen Unternehmungen und die gemeinsame Zeit war Uliana Tiurina sehr glücklich mit ihrer neu dazu gewonnenen deutschen Familie. "Ich konnte meine Probleme in der Ukraine in den Momenten vergessen", sagt Uliana lächelnd, aber ganz ungetrübt ist das Lächeln nicht.
"Wir haben uns oft in den Arm genommen"
Den Kummer ihrer ukrainischen Gastfamilie bekamen die Köpfs hautnah mit. Sobald das Smartphone klingelte, habe es Tränen gegeben, erzählen Melanie und Alex Köpf. Uliana Tiurinas Kinder hatten eine Bombenalarm-App auf ihrem Smartphone. Sobald er losging, war klar, dass Bomben in ihrer Heimat fielen.
"Wir saßen oft hier und haben uns gegenseitig in den Arm genommen", erinnert sich Melanie Köpf. Ihr acht Jahre alter Sohn Lio habe sich dann zurückgehalten. Er wollte Rücksicht nehmen, wie er selbst sagt: "Wenn ich gesehen habe, dass sie traurig waren, dann wusste ich nicht, ob sie vielleicht über den Krieg oder was Privates reden, da wollte ich nicht mithören oder spionieren." Seine Schwester Mathilda ging mit der Situation anders um. Sie berichtet: "Ich hab' ein Plakat geschrieben, da stand drauf: Wir lieben euch alle!"