Ärzte warnen vor FASD Ein Schluck Alkohol in der Schwangerschaft kann ein ganzes Leben beeinträchtigen
Sogenannte Fetale Alkoholspektrumstörungen gehören zu den häufigsten angeborenen Behinderungen. Trotzdem gibt es unter Schwangeren noch viel Unwissen - und bis zur Diagnose ist es oft ein weiter Weg.
Christopher wühlt in dem bunten Lego-Chaos und sucht nach dem richtigen Stein. Sein Lieblingshobby ist es, mit den Bausteinen zu spielen und dabei Hörspiele der "Drei ???" zu hören. Manchmal hört er dabei ein paar Minuten nicht zu. Denn lange konzentrieren kann der 16-Jährige sich nicht. Christopher hat FASD – das ist die englische, auch in Deutschland gebräuchliche Abkürzung für Fetale Alkoholspektrumstörung.
Seine Mutter habe sehr viel Alkohol getrunken, geraucht und vielleicht sogar Drogen genommen, als er in ihrem Bauch war, erzählt Christopher, der seit seinem dritten Lebensjahr bei einer Pflegefamilie in Weiterstadt (Darmstadt-Dieburg) lebt.
"Ab und zu merke ich schon, dass ich mich von den anderen unterscheide", sagt Christopher. Er sei schneller abgelenkt und denke anders als die anderen. Außerdem hat er Probleme mit der Wirbelsäule und Asthma – auch das könnte eine Folge von FASD sein.
So wie Christopher geht es vielen Kindern und Jugendlichen. Denn Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist in Deutschland einer der häufigsten Gründe für bereits bei der Geburt vorliegende Behinderungen. Jedes Jahr werden bundesweit mehr als 10.000 Kinder mit FASD geboren. Die Dunkelziffer ist Expert:innen zufolge hoch.
Ärztin rät zu null Alkohol während der Schwangerschaft
Die Ursache von Alkoholspektrumstörungen kann schon eine geringe Menge Alkohol in der Schwangerschaft sein, sagt die Marburger Gynäkologin Katrin Gerken. Das sei vielen nicht klar. "Es geht nicht nur darum, dass man sich nicht betrinkt, sondern wirklich null, also gar keinen Schluck Alkohol", betont sie.
Doch der Umgang mit Alkohol in der Schwangerschaft ist ein schambehaftetes Thema. Darüber zu sprechen ist für betroffene Mütter oft nicht leicht. "Es ist ein großes Tabuthema in unserer Gesellschaft", sagt die Hebamme Nicole Olbert-Walter. Aufklärung sei deshalb umso wichtiger – auch schon vor der Schwangerschaft.
"Die Diagnose verändert alles"
Neben ihrer Arbeit im Gesundheitszentrum Odenwaldkreis betreut sie seit acht Jahren als Familienhebamme Schwangere und deren Kinder zu Hause. "Mir fallen drei Familien direkt ein, bei denen wir mit FASD zu tun hatten", erzählt sie. Sie arbeite dann eng mit dem Jugendamt zusammen. "Vorher sprechen wir aber natürlich immer erst mit der Mutter", sagt sie.
Wenn es bei einem Kind den Verdacht auf FASD gibt, müsse es nach der Geburt besonders intensiv betreut werden. "Die Säuglinge sind oft unruhiger, haben Schlafstörungen oder Essstörungen", sagt Olbert-Walter. Doch eine eindeutige Diagnose ist oft schwierig.
Wie wichtig eine Diagnose für Familien und betroffene Kinder ist, weiß die FASD-Referentin Sarah Blatt aus Marburg. Sie bietet Weiterbildungen für Pädagoginnen und Pädagogen zum Thema an. "Es gibt dann einen Grund für die Probleme, und das schafft oft eine riesengroße Erleichterung." Und: "Wer eine Diagnose hat, kann entsprechende Hilfen beantragen, die dann den Menschen mit Behinderungen auch Teilhabe ermöglichen." Ein Beispiel dafür sei ein Behinderten-Ausweis.
Zu wenige Anlaufstellen für Betroffene
Das sei hilfreich, sagt Sarah Blatt – doch im Umgang mit FASD müsse sich aus ihrer Sicht noch viel tun. "Es würde niemandem wehtun, auf jeder Flasche Alkohol ein kleines Zeichen drauf zu haben 'Schwangerschaft und Alkohol gehören nicht zusammen'", sagt sie.
Außerdem müsste es, gerade in Hessen, mehr Anlaufstellen für die Beratung geben. "Wenn es eine bessere Versorgungslage gäbe, könnten die Diagnosen viel schneller gestellt werden und dadurch auch schneller Hilfen für Teilhabe für die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen beantragt werden."
Christophers Ziel: Eine Ausbildung machen
Auch für Christophers Pflegefamilie war es ein weiter Weg zur Diagnose. "Papierkram, fehlende Ansprechpartner, Wartezeiten", zählt Christophers Pflegemutter Cynthia Greiner auf. Sie waren bei vielen Ärzten und sind schließlich für die Diagnose sogar bis nach Berlin gefahren. "Danach war alles anders", sagt Greiner.
Christopher geht mittlerweile auf eine Schule für Kinder und Jugendliche mit körperlicher Behinderung. "Früher war ich auf einer anderen Schule und da wurde ich immer ausgelacht, weil ich anders aussehe als die anderen." Deshalb habe er nicht so Lust mit anderen Kindern in seinem Alter etwas zu unternehmen, die keine Beeinträchtigung haben.
An seiner neuen Schule fühlt Christopher sich wohl. Er hat gerade seinen Hauptschulabschluss geschafft. Das nächste Ziel: ein Realschulabschluss und dann das Abitur. Danach will er eine handwerkliche Ausbildung machen, sagt Christopher. FASD wird ihn dabei immer begleiten.
Seine Pflegefamilie möchte Christopher dabei unterstützen, seine Ziele zu erreichen. "Ich will einfach, dass er glücklich ist und sein Leben lang Menschen trifft, die ihn unterstützen und so nehmen wie er ist", sagt seine Pflegemutter Cynthia Greiner.