Drohende Schließung Drei Grundschulen im Schwalm-Eder-Kreis in Existenznot

In gleich drei Orten plant der Schwalm-Eder-Kreis, Grundschulen dicht zu machen. Dabei steigen die Schülerzahlen. Die Eltern sind verärgert.

Am Zaun der Schule hängen Transparente gegen die Schließung. Darauf steht in bunter Schrift "Hand in Hand gegen die Schulschließung" und "Lasst die Schule im Dorf".
"Lasst die Schule im Dorf": Mit Transparenten protestiert die Schulgemeinde gegen die geplante Schließung. Bild © hr/Stefanie Küster
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Günstige Immobilienpreise, eine Grundschule für den sechs Jahre alten Alexander, dazu ein Kindergartenplatz für den kleinen Alessio: Das waren die Gründe für Natascha und Igor Wiebe, sich ein altes Haus in Knüllwald-Rengshausen (Schwalm-Eder) zu kaufen und von Lohfelden bei Kassel aufs Land zu ziehen.

Seit einem halben Jahr wohnt die Familie im Erdgeschoss ihres Hauses - der Rest gleicht noch einer Baustelle. Dass die fünf Minuten Fußweg entfernte Grundschule in ein paar Jahren schließen soll, haben sie von einem Nachbarn erfahren. "Wir waren total erschrocken", erinnert sich Igor, immerhin wird Sohn Alexander hier nach den Sommerferien eingeschult - und die nächste Grundschule liegt knapp zehn Kilometer entfernt im Nachbarort Remsfeld.

Igor und Natascha Wiebe mit ihren Söhnen Alexander (6) und Alessio (9 Monate) - beide Jungs schaukeln hinter dem Haus.
Die nahe gelegene Schule war ein Kriterium für den Hauskauf: Igor und Natascha Wiebe mit ihren Söhnen Alexander (6 Jahre) und Alessio (9 Monate). Bild © hr/Stefanie Küster

14 Schulen in fünf Jahren betroffen

Im Schwalm-Eder-Kreis südlich von Kassel ist nicht nur die Gemeinde Knüllwald von einer möglichen Schulschließung betroffen. Auch in Schwalmstadt- Allendorf und in Homberg/Efze steht jeweils eine Grundschule vor dem Aus. So ist es im Schulentwicklungsplan des Kreises festgehalten worden.

Klassenräume und Schulhöfe, Lernmittel und Angebote: Was genau wo gebraucht wird, schreiben die Schulbehörden der kreisfreien Städte oder Landkreise in ihrem Schulentwicklungsplan fest. Sie sind dazu gesetzlich verpflichtet und an die Vorgaben des Landes gebunden.

Dabei haben sie die Entwicklung der Schülerzahlen auf Grundlage der amtlichen Schulstatistik und der Melderegisterdaten im Blick, um bei Veränderungen rechtzeitig ausreichend Plätze für Schulkinder zu haben. Beschlossen wird der Schulentwicklungsplan von den zuständigen Gemeindevertretungen oder den Kreistagen.

Schulschließungen sind grundsätzlich nicht ungewöhnlich. Seit dem Schuljahr 2018/2019 sind laut dem Hessischen Kultusministerium insgesamt sieben Schulen geschlossen und sieben weitere zusammengelegt worden. Das Ministerium spricht in seiner Statistik von "Aufhebungen" als eigenständige Schule statt von "Schulschließungen", da an einigen Standorten als Außenstelle einer anderen Schule weiterhin Unterricht stattfindet.

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Problem 1: Demografische Entwicklung im ländlichen Raum

Auffällig ist, dass allein im Schwalm-Eder-Kreis gleich drei Schulen betroffen sind. Blickt man auf die letzten fünf Jahre, fällt auf: Vor allem ländliche Gebiete sind betroffen. Neben dem Schwalm-Eder-Kreis mit zwei Schulen zum Schuljahr 2018/19 waren in ganz Nordhessen mit der Stadt Kassel (eine Schule) und dem Werra-Meißner-Kreis (zwei Schulen) gleich fünf Schulen betroffen.

Das Kultusministerium nennt vor allem die demografische Entwicklung als Grund für die Aufhebungen. Weniger Kinder machten an manchen Orten "eine Differenzierung des Unterrichts und eine sinnvolle Unterrichts- und Erziehungsarbeit" unmöglich. Die Aufhebung von Schulen für Lernhilfe sei hingegen "das Ergebnis fortschreitender Inklusion", heißt es aus dem Ministerium. 

Wo werden Schulen gebraucht - und wo nicht? Diese Entscheidung ist nicht Aufgabe des Landes Hessen, sondern fällt in die Zuständigkeit der kommunalen Schulträger. Neben elf Städten sind das die 21 Landkreise in Hessen. Sie entscheiden neben einer Aufhebung auch darüber, welche Schulform an welchem Standort gebraucht wird oder wann eine Organisationsänderung wie zum Beispiel die Umwandlung einer Haupt- und Realschule in eine integrierte Gesamtschule sinnvoll ist.

Dem Schulentwicklungsplan muss das Land allerdings zustimmen. So soll sichergestellt werden, dass ein Schulstandort "niemals isoliert, sondern stets im Kontext der regionalen Schulentwicklung" betrachtet wird, erklärt eine Ministeriumssprecherin. Ziel ist, "ein bedarfsorientiertes und zweckmäßiges Bildungsangebot" für alle Kinder sicherzustellen, heißt es aus dem Ministerium.

Problem 2: Sanierungsstau und fehlende Räume für die Nachmittagsbetreuung

Im Knüllwalder Ortsteil Rengshausen beobachtet Bürgermeister Andreas Koch (unabhängig) allerdings noch keinen Schülerschwund - im Gegenteil. Würden nach den Sommerferien 63 Kinder an der Grundschule unterrichtet, steige die Schülerzahl in den nächsten Jahren auf 74 an, so Koch. Seine Gemeinde ist mit 4.500 Einwohnern verteilt auf 16 Ortsteile Hessens drittgrößte Flächengemeinde.

Das Vorhaben, die Schule in Rengshausen aufzugeben und die Kinder künftig an der Grundschule in Remsfeld zu unterrichten, kann Koch aus wirtschaftlicher Sicht verstehen. Denn dort sei das Schulgebäude frisch saniert worden und stehe zu 50 Prozent leer, während das in die Jahre gekommene Gebäude in Rengshausen dringend saniert werden müsse.

Bürgermeister Andreas Koch steht mit Vertreterinnen und Vertretern der Schule, der Elternschaft und des Kindergartens vor dem Rathaus in Knüllwald: gerade wurden ihm die Unterschriftenlisten für den Erhalt der Grundschule in Rengshausen übergeben.
Übergabe an Bürgermeister Andreas Koch (3.v.r.): mehr als 800 Unterschriften wurden bisher gesammelt. Bild © hr/Stefanie Küster

Außerdem fehlten die nötigen Räume für den geplanten "Pakt für den Ganztag" ab dem Schuljahr 2026/2027. Ab diesem Zeitpunkt besteht ein Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung von Kindern ab dem Grundschulalter.

Ganztagsangebote von 7.30 bis 17 Uhr, dazu Betreuung in den Ferien: Das sind die Kernpunkte des "Pakts für den Ganztag". Bereits zum Schuljahr 2015/2016 war der "Pakt für den Nachmittag" eingeführt worden. Land und Schulträger übernehmen hierbei gemeinsam Verantwortung.

Zunächst waren sechs Pilot-Schulträger beteiligt. Zuletzt waren es nahezu 90 Prozent der Schulträger - mit insgesamt 435 Schulen. Das ausgeweitete Angebot soll mehr Bildungsgerechtigkeit und individuelle Förderung bieten, außerdem sollen Eltern so Job und Familie besser unter einen Hut bekommen. Das Angebot ist freiwillig, aber nach der Anmeldung verbindlich.

Extra Bauplätze für Familien ausgeschrieben

Doch bei allem Verständnis für die wirtschaftliche Perspektive will Koch die Grundschule auf jeden Fall im Ortsteil halten. Auch, weil nebenan ein Kindergarten mit vier Gruppen beheimatet ist. Er befürchtet, dass Rengshausen deutlich an Attraktivität verliert: Man habe extra Bauplätze ausgeschrieben, um mehr junge Familien nach Knüllwald zu locken - wie im Fall von Familie Wiebe.

Bei einem Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern von Förderverein, Schule und Kindergarten betonte Koch deshalb am Montag noch einmal, sich für den Erhalt der Grundschule im Kreistag einzusetzen. Für das Ende August anstehende Gemeindefest will die Schule ein Bühnenprogramm auf die Beine stellen, um auf das drohende Aus aufmerksam zu machen.

"Lasst die Schule im Dorf"

Dazu hat der Förderverein der Schule eine Petition gestartet und im Ort Unterschriftenlisten ausgelegt. Mehr als 800 Namen stehen schon darauf.

Die erste Vorsitzende Nicole Schaumlöffel hat in den letzten Tagen Anrufe und Nachrichten von unzähligen Eltern erhalten. Diese seien verunsichert und wütend, wollten wissen, wie es weitergeht - und sich dafür einsetzen, dass die Schule im Dorf bleibt. Für die Kinder bedeute eine Verlegung nach Remsfeld vor allem einen längeren Schulweg, der nicht mehr zu Fuß, sondern mit Bus und Auto bewältigt werden muss, sagt Schaumlöffel.

Eine besondere Situation ergebe sich für Kinder aus Ludwigsau-Ersrode im Landkreis Hersfeld-Rotenburg, erklärt die Vorsitzende. Aktuell würden die Kinder durch den Schulbesuch im benachbarten Landkreis rund 15 bis 20 Kilometer Schulweg sparen. Dazu würden auch Freundschaften auseinander gerissen, so Schaumlöffel.

Videobeitrag

Elternprotest – Schwalm-Eder-Kreis will drei Schulen schließen

hessenschau vom 05.08.2024
Bild © hr
Ende des Videobeitrags

Knackpunkt: Mittagessen

Für den Schwalm-Eder-Kreis stellt sich die Situation nicht so dramatisch dar, wie von den Eltern und der Schulgemeinde beschrieben. So komme derzeit bereits der weitaus größte Teil der Schüler mit dem Bus nach Rengshausen, wie ein Sprecher betonte.

Vor allem aber verweist der Kreis auf die fehlenden Räume für die Ganztagsbetreuung. Insbesondere fehlten "adäquate Möglichkeiten, ein den Richtlinien entsprechendes Mittagessen anzubieten", so der Sprecher. Man müsse am Standort extra "eine Ausgabeküche und eine Mensa errichten", dazu seien Sanierungen im bereits bestehenden Gebäude notwendig.

Schwalmstadt-Allendorf und Homberg/Efze auch betroffen

Doch nicht nur in Knüllwald gibt es seit dem Start der Ferien nur ein Thema: Auch die Elsa-Brändström-Schule in Homberg (Efze), eine Förderschule, und die Brüder-Grimm-Schule in Schwalmstadt-Allendorf, eine Außenstelle der Eckhardt-Vonholdt-Schule in Treysa, sind von den Plänen betroffen. In Allendorf werden die Kinder bereits jahrgangsübergreifend unterrichtet.

Die Schülerinnen und Schüler beider Schulen werden laut Kreissprecher bereits jetzt mit dem Bus zur Schule gebracht. In Homberg liegt der Standort der Schule auf einem Schulcampus mit zwei weiteren Schulen. Alle drei seien nicht auf dem neuesten Stand, noch dazu sei für die nötigen Baumaßnahmen für eine Ganztagsbetreuung hier zu wenig Platz, heißt es aus dem Kreis. Die Kinder könnten an zwei anderen Standorten untergebracht werden.

"Pädagogisch nicht angemessen": Kritik an Schulentwicklungsplan

Für Schwalmstadts Bürgerneister Tobias Kreuter (unabhängig) passen die Entwicklung der Klassen und die Schließungspläne nicht zusammen. Auch wenn man zuletzt jahrgangsübergreifend unterrrichtet habe, hätten sich die Schülerzahlen erfreulich entwickelt.

Während im Schuljahr 2010/2011 18 Kinder in die Brüder-Grimm-Schule in Schwalmstadt-Allendorf gingen, wurden dort im vergangenen Schuljahr 45 Kinder beschult. Allein, dass 20 Kinder in der ersten Klasse neu eingeschult wurden, zeige den Bedarf, sagt Kreuter. Auch sieht er die Einschätzung des Kreises hinsichtlich der Schulwege anders. Nach dem Aus für den Standort seien alle Kinder auf einen Schulbus angewiesen.

Keuter kritisiert auch, dass das geplante Aus kurz vor den Sommerferien verkündet wurde. So erfolge ein Hauptteil der Arbeit aller Betroffenen in den Sommerferien. Man schaue sich den Schulentwicklungsplan derzeit intensiv an, er selbst halte die Pläne "weder pädagogisch noch aus dem Blickwinkel der Eltern für angemessen".

Blick auf den Schulhof in Knüllwald-Rengshausen. Im Vordergrund steht eine Kletterturm mit Rutsche, im Hintergrund ist das Gebäude zu sehen.
Wird diese Schule geschlossen? Blick auf den Schulhof in Knüllwald-Rengshausen. Bild © hr/Stefanie Küster

So geht es weiter

Ob es tatsächlich zu der Schließung der drei Schulen kommt, steht noch nicht endgültig fest. Zunächst muss der Kreistag dies beschließen, danach entscheidet das Kultusministerium über eine Genehmigung. Gemeinsam mit den betroffenen Schulen würde dann das Staatliche Schulamt über die Umsetzung und mögliche Maßnahmen entschieden. Auf einen genauen Termin wollte sich der Kreissprecher deshalb noch nicht festlegen.

Vater Alexander Wiebe ist fest entschlossen, sich mit Händen und Füßen zu wehren. "Für die Kinder tun wir alles", sagt der 33-Jährige. Für Bürgermeister Koch stellt sich vor allem eine Frage, die alle angeht: "Was ist uns als Gesellschaft Schule wert?"

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de