Ehrenamt für "Essen auf Rädern" Die 91-Jährige, die in ihr Auto stieg und anderen half
Mit ihren 91 Jahren könnte sich Gertrud Kirk aus Bad Nauheim eigentlich zurücklehnen. Doch die Seniorin hilft lieber anderen. Eine (kleine) Heldinnengeschichte.
Die 18 Stufen bis nach unten bereiten ihr die größten Schwierigkeiten. Vorsichtig, die Hand immer am Geländer, steigt Gertrud Kirk hinab. Im Keller eines Seniorenheims in Bad Nauheim (Wetterau) ruft ihre Pflicht, wie Kirk es ausdrückt. Hier hilft sie ehrenamtlich bei "Essen auf Rädern". Im Dezember wird sie 92 Jahre alt, ans Aufhören denkt die Seniorin aber nicht.
"Ich bin vom Kopf noch gut beieinander, ich fahre auch noch Auto - und dabei braucht keiner Angst vor mir zu haben", sagt Kirk. Nur die Arthrose in den Beinen macht ihr zu schaffen. Lange stehen geht nicht, oft nutzt sie einen Rollator.
Essen ausfahren ist nicht mehr drin
Mit ihrem Kleinwagen fährt sie zum Dienst, von ihrem Haus in Nieder-Mörlen bis in die Bad Nauheimer Innenstadt. Über 20 Jahre ist sie schon dabei. Früher habe sie das Essen noch selbst ausgefahren - das geht heute nicht mehr. Die schweren, schwarzen Thermoboxen, in denen das Essen verstaut ist, kann sie kaum tragen; sie eine Treppe hoch zu schleppen und bis ans Bett eines Kunden zu bringen: unmöglich.
Jetzt hilft sie eben so aus, wie sie noch kann: Sie hütet im Seniorenheim das Telefon, betreut die Hungrigen und befreit die zurückgelieferten Thermoboxen von Essensresten.
Jeder, der es braucht, soll ein warmes Essen bekommen
Ohne die Hilfe der Ehrenamtlichen wäre der Essensdienst in Bad Nauheim nicht möglich. Bezahltes Personal würde einen Aufschlag bei den Preisen bedeuten, und das in Zeiten, in denen ohnehin vieles teurer wird. Hier zählt oft jeder Cent: 6,80 Euro koste das preiswerteste Essen, sagt Josefa Schnorr, die Leiterin des Vereins "Bürgerinitiative Altenselbsthilfe Bad Nauheim", der das Essen auf Rädern in der Kurstadt größtenteils ehrenamtlich organisiert. "Wir haben den Anspruch, dass jeder in Bad Nauheim und Umgebung ein warmes Essen bekommt, der es braucht. Da können wir nicht einfach sagen, jetzt kostet es 7,80 Euro."
Schnorr ist Kirk unendlich dankbar für die Arbeit. Die Spenden seien zurückgegangen, junge Menschen könnten sich nur selten fürs Ehrenamt begeistern. So bleiben am Ende die Rentner übrig - sofern sie selbst noch körperlich dazu in der Lage sind. "Altenselbsthilfe" steht auf einem Schild über dem Eingang zum Keller des Seniorenheims. "Ich habe mir schon oft gedacht, dass wir uns anders nennen sollten", sagt Schnorr. Aber am Ende sei das wohl der passende Begriff: Alte helfen Alten.
Land versucht Anreize fürs Ehrenamt zu setzen
Politisch ist das Thema Ehrenamt allemal: Mit Angeboten wie der Ehrenamts-Card, einer Möglichkeit vergünstigt in Museen, Schwimmbäder oder Kinos zu gehen, versucht die Politik, das Ehrenamt attraktiver zu machen. Staatskanzlei-Chef Axel Wintermeyer (CDU) betonte auf hr-Anfrage, wie wichtig die Engagierten seien. "Sie vereint, dass sie für andere da sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie sich im Fußballverein oder bei der Tafel engagieren – sie alle stärken den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft", sagte Wintermeyer.
Rund zweieinhalb Millionen Menschen in Hessen engagieren sich in ihrer Freizeit in einem Ehrenamt. Das sind immerhin 41 Prozent, wie aus dem Freiwilligensurvey 2019 hervorgeht, einer repräsentativen Befragung, die vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben wurde. Im Vergleich der Bundesländer liegt Hessen in dieser Auswertung auf Rang vier. Aktuellere Daten liegen derzeit nicht vor.
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Ein Land ohne Ehrenamt? Schwer vorstellbar - womöglich gar nicht machbar. "Gäbe es dieses Engagement nicht, wären wir alle ein Stück ärmer. Auch menschlich", sagte Wintermeyer.
Würde Gertrud Kirk diese Worte hören, wäre sie vermutlich peinlich berührt. Ihr ist es unangenehm, auf ihr Ehrenamt angesprochen zu werden. "Da gibt es andere, die viel mehr leisten als ich", sagt sie - und weiß insgeheim wohl, dass das nur Menschen sagen, die selbst viel leisten. Kirk ist eine von "Hessens Helden", eine Auszeichnung, die sie im Rahmen der gleichnamigen hr4-Aktion verliehen bekommen hat. Auch das ist ihr eher peinlich. Dennoch stimmte sie einem Interview zu, denn ihr ist es wichtig zu betonen, wie notwendig das Ehrenamt sei. Immer nur auf der Couch zu sitzen, davon habe niemand etwas.
Kirk ist Jahrgang 1930, und die Hilfe für Ältere zieht sich durch ihr eigenes Leben. Als die Kinder aus dem Haus waren und sie sich nur noch um den geliebten Garten kümmern konnte, wollte sie mehr. Nach zwei Ausbildungskursen arbeitete sie in der Pflege - auch über ihr Renteneintrittsalter hinaus. Im Altersheim hätten ihr die Leute oft gesagt: "Frau Kirk, werden Sie nur nicht alt, es ist nicht schön."
Helfen hält jung
Nun ist sie selbst alt - uralt, wie Kirk sagt. Die regelmäßige Arbeit helfe ihr, sich weiter jung zu fühlen. Deswegen ist sie auch an diesem Donnerstag in den Keller des Altenheims hinabgestiegen, obwohl ihr die Treppenstufen zusetzen. Obwohl es regnet. Obwohl jeder, der heute drinnen bleiben kann, das auch tun würde. Nur eben nicht Gertrud Kirk. Sie stieg in ihr Auto, um zu helfen. "Ich bin so erzogen worden, und wenn ich zum Dienst eingeteilt bin, dann komme ich auch", sagt sie.
Sendung: hr4, 28.11.2022, 14.15 Uhr
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