Ein Jahr Queeres Zentrum in Kassel "Wir wollen der neue Leuchtturm werden"
Es soll ein Zufluchtsort sein für Menschen verschiedener sexueller Orientierungen: Seit einem Jahr gibt es das Queere Zentrum Kassel. Hunderte Menschen haben es seither besucht. Für viele gehören Anfeindungen nach wie vor zum Alltag.
Ganz leicht zu finden ist das Queere Zentrum Kassel nicht. Ein langer Flur führt zu den Räumen in einer ehemaligen Arztpraxis im fünften Stock des Gebäudes in der Innenstadt, 170 Quadratmeter groß.
"Offen für Vielfalt" steht an der Tür. Dahinter gemütlich eingerichtete Räume mit Sofas, Blumen, Bildern an den Wänden. Es ist kein Ort der lauten Töne, überdimensionierte Regenbogen-Fahnen vermisst man hier.
Von Nähkursen bis Treffen für queere Menschen über 50
An diesem Tag surren die Nähmaschinen. Ein Nähworkshop steht auf dem Plan. An einer der Maschinen sitzt Tristan Marie Trotz. Tristan Marie ist trans, hat das Schneiderhandwerk gelernt und engagiert sich ehrenamtlich im Queeren Zentrum.
"Als Trans-Person ist Hosenkaufen oft schwer, weil an den Hosenschnitten so viel ein Missempfinden mit dem eigenen Körper auslöst", sagt Tristan Marie. "Wenn dann mal eine Hose passt, dann ist es schön, wenn sie viele Jahre bleibt." Klamotten-Flicken ist daher sehr gefragt im Queeren Zentrum.
Es gibt aber auch andere Angebote, die größtenteils ehrenamtlich organisiert werden. Dazu zählen etwa ein Selbstverteidigungskurs oder die Gruppe Queers 50+. Ebenfalls auf der Angebotsliste ist ein Treffen für Queer Professionals, also Menschen, die sich beruflich mit queeren Themen auseinandersetzen.
Hilfe für Menschen in Krisensituationen
Vor einem Jahr wurde das Queere Zentrum offiziell eröffnet. Die Idee dazu gab es schon deutlich länger. Zu den Pionieren zählt Frank Engelhardt. Der 53-Jährige ist homosexuell und gehört zum Vorstand des Vereins, der hinter dem Zentrum steht. "Wir wollen der neue Leuchtturm werden", sagt Engelhardt.
Wir wollen der neue Leuchtturm werden! Zitat von Frank Engelhardt vom Queeren Zentrum KasselZitat Ende
Man wolle die Stadtgesellschaft bereichern. Queere Menschen hätten aufgrund ihrer persönlichen Geschichte häufig einen großen Erfahrungsschatz beim Thema Awareness, also Achtsamkeit. "Viele Menschen können doch von uns profitieren", sagt Engelhardt. Das Queere Zentrum soll aber auch konkrete Hilfen in Krisensituationen geben, etwa wenn queere Menschen von ihren Familien verstoßen werden.
Stadt Kassel gibt 70.000 Euro im Jahr
"Wir freuen uns sehr, dass das Zentrum als Ort für queeres Leben so gut angenommen wird und sich so viele Gruppen aus den Communities mit verschiedenen Interessen dort treffen", heißt es von der Stadt Kassel auf hr-Anfrage. Das Zentrum sei ein "Willkommensort und Ort der Sichtbarmachung". Man unterstütze die Einrichtung jährlich mit 70.000 Euro. Dazu kämen Spenden.
Rund 280 Mitglieder habe der Verein bisher. Und man wolle weiter wachsen. Früher hätte er nach Berlin ziehen müssen, um sich frei zu fühlen, sagt Engelhardt. Heute gehe das auch in Kassel. Entsprechend brauche es ein Angebot.
Neben dem Queren Zentrum gibt es in Kassel schon länger ein Queeres Jugendzentrum mit Angeboten für Menschen zwischen 9 und 27 Jahren. Andere Queere Zentren gibt es etwa in Darmstadt, Wiesbaden oder Marburg.
Mehr queerfeindliche Straftaten
Mehr als jeder zehnte Mensch in Deutschland bezeichnet sich selbst als queer. Das geht aus einer Studie des Marktforschungsunternehmens Ipsos hervor. Gleichzeitig steigt die erfasste Zahl der queerfeindlichen Straftaten. Das ist das Ergebnis des jüngsten Lageberichts des Bundeskriminalamts zur Sicherheit von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen sowie queeren Menschen. In Frankfurt wurde erst kürzlich ein 60-Jähriger aus der queeren Szene attackiert.
Eine Oase auch für Queere vom Land
"Wir haben immer wieder Leute von außerhalb, die auch teilweise eine lange Reise auf sich nehmen, um hier herzukommen", sagt Fred Stecher. Stecher ist 29 Jahre alt und hauptamtlich für die Projektkoordination im Queeren Zentrum zuständig, kennt als Trans-Person selbst Anfeindungen im Alltag und auch das Gefühl von Einsamkeit.
Wir haben immer wieder Leute von außerhalb, die eine lange Reise auf sich nehmen, um hier herzukommen. Zitat von Fred Stecher vom Queeren Zentrum KasselZitat Ende
Über 1.000 Menschen seien in den vergangenen Monaten ins Zentrum gekommen. Für viele auch gerade aus dem ländlichen Raum um Kassel sei der Ort eine Oase. "Viele sagen, dass sie hier Anschluss finden und sich weniger alleine fühlen."
Das gilt auch für Tristan Marie Trotz vom Nähkurs im Queeren Zentrum. "Einen Ort zu haben, wo ich einfach hingehen kann, einmal Luft holen, einfach sein, meine Existenz nicht diskutieren muss – das finde ich total wichtig."