Explodierende Kosten Soziale Einrichtungen stehen wegen Energiekrise vor dem Kollaps
Steigende Energiepreise belasten soziale Einrichtungen: Sie stehen vor einem organisatorischem Chaos und finanzieller Unsicherheit. In Altenheimen droht vielen Bewohnerinnen und Bewohnern die Sozialhilfe.
Normalerweise würden bei der Sozialgruppe Kassel zur Zeit die Finanzpläne für das kommende Jahr festgezurrt, in diesem Jahr ist alles anders: "Es ist einfach nur chaotisch, man weiß, es kommt was, aber man weiß nicht was", sagt Vorstand Mike Alband-Nau. Klar ist, Energie wird teuer. Aber wie teuer, und wer soll das zahlen?
"Krise, Krise, Krise"
Die Sozialgruppe Kassel hat drei Standorte mit einem Seniorenzentrum, einer Tagesstätte, einer Werkstatt für behinderte Menschen und einer Kita. Erst habe der Versorger den Fernwärme-Vertrag zu den aktuellen Konditionen gekündigt, dann folgten auf Bundesebene zunächst die Gasumlage und später die Gaspreisbremse - und immer wieder muss Alband-Nau aufs Neue anfangen zu rechnen: "Im Moment ist Krise, Krise, Krise", erklärt er.
Bei der Fernwärme rechnet er mit 36 Prozent mehr, beim Strom mit dem Doppelten. Der Träger werde das vorschießen müssen und gleichzeitig schauen, wer die Kosten am Ende übernimmt. Spartipps von Politikern helfen da wenig: Solar sei schon auf dem Dach, die Heizung könne nicht weiter runtergedreht werden, weil die Einrichtung so einen Legionellenbefall riskieren würde, sagt Alband-Nau. Das Risiko für die gesundheitlich vorbelasteten Klienten sei viel zu hoch.
Paritätischer warnt vor Insolvenzen
Alle sozialen Einrichtungen stehen aktuell vor einer ähnlichen Situation. Der Paritätische Wohlfahrtsverband Hessen warnte bereits Ende September davor, dass manche Einrichtungen durch steigende Kosten sogar von der Insolvenz bedroht sein könnten. Am Freitag veröffentlichte der Verband eine bundesweite Umfrage unter 1.300 Einrichtungen aus dem Bereich sozialer Arbeit: 90 Prozent sehen ihre Einrichtung durch die hohen Energiekosten gefährdet, 45 Prozent gaben an, es maximal ein Jahr zu schaffen, ihre Angebote weiterzuführen.
Unter den Befragten waren rund 200 hessische Einrichtungen. Es bräuchte dringend eine Nothilfe, mahnte der Paritätische Wohlfahrtsverband. Aber egal, wie viele Brandbriefe bisher abgesendet wurden, gebracht habe es nichts, sagt Frédéric Lauscher, Vorstandsvorsitzender beim Frankfurter Verband für Alten- und Behindertenhilfe. "Die Landesregierung macht gar nichts, die stellen sich einfach tot", erklärt Lauscher. Ein Phänomen, das er schon seit Corona kenne - und das, obwohl die Auswirkungen der Energiekrise und die sowieso schon bestehende Personalnot in der Pflege alarmierend seien.
Problematisch werde es vor allem für Einrichtungen, die von einem Zuschuss leben, also eine bestimmte Summe erhalten, mit der sie wirtschaften müssen, sagt Lauscher. Das betreffe den Frankfurter Verband bei seinen Beratungs- und Betreuungsangeboten. Hier müssten bis zu 25 Prozent eingespart werden, wenn zum 1. Januar neue Energieverträge kommen und die Kosten stark steigen, schätzt Vorstand Lauscher.
Altenhilfe: Es wird teuer für Bewohner
In der stationären Altenhilfe ist klar, wer die gestiegenen Kosten am Ende tragen muss: Bewohner und Bewohnerinnen. Lauscher schätzt, dass die Kosten um mindestens 30 Euro am Tag steigen, rund 900 Euro im Monat. Mit ähnlichen Kosten für die Bewohner rechnet auch Walter Berle für das Altenheim Eben Ezer in Gudensberg (Schwalm-Eder), dort ist Berle im Vorstand, außerdem ist er Sprecher für die stationäre Altenhilfe beim Paritätischen Wohlfahrstverband.
Selbst wenn er den Gaspreisdeckel schon einrechne, schätzt er, dass die Kosten für Gas und Strom für das Altenheim sogar um 400 bis 500 Prozent steigen könnten. Alle Einrichtungen stünden nun vor dem gleichen Problem wie Eben Ezer, sagt er: Erst muss mit Pflegekassen, Landkreis und Energieversorgern über die Kosten verhandelt werden - am Ende werden die aber wieder auf die Bewohner umgewälzt.
Mehr Bewohner könnten bedürftig werden
Das wird künftig zu mehr finanzieller Not bei den Klienten führen. Wer die Mehrkosten nicht aus Rente und Vermögen stemmen kann, landet in der "Hilfe zur Pflege", der staatlichen Unterstützung. In Eben Ezer seien bisher bereits 70 Prozent der Bewohner und Bewohnerinnen auf finanzielle Hilfe angewiesen, von den übrigen 30 Prozent werden viele die höheren Kosten künftig nicht mehr selbst tragen können, schätzt Berle.
Noch habe er aber keine fixen Zahlen parat, die er Pflegebedürftigen und Angehörigen nennen könnte, denn auch Kosten bei der Verpflegung und Instandhaltungskosten würden steigen. Am Ende werden alle Kosten zusammen wohl mehr als 1.000 Euro im Monat zusätzlich ausmachen, sagt Berle.
ASB: "Sehr, sehr bitter"
Teurer werde es auch, weil die Tariflöhne in der Altenpflege zuletzt gestiegen seien, sagt Lars Peter, beim Arbeitersamariterbund (ASB) als Geschäftsführer für die Wohn- und Pflegegesellschaften zuständig. Er erwartete, dass es für Bewohner und Bewohnerinnen in stationären Einrichtungen insgesamt "sehr, sehr bitter" werden könnte. Weil mehr Menschen vom Staat abhängig würden, sei die ganze Gesellschaft betroffen: "Am Ende verlieren wir alle, weil Sozialkosten nach oben gehen."
Stationäre Pflegeeinrichtungen könnten künftig finanziell von einem Sonderbudget profitieren, das die Bundesregierung angekündigt hat. Dem hessischen Sozialministerium seien dazu allerdings noch keine Einzelheiten bekannt, hieß es auf hr-Anfrage. Das Land hatte Ende September einen 200-Millionen schweren Härtefallfonds angekündigt, der zumindest in Not geratenen Haushalten, Einrichtungen und Vereinen helfen soll.
Weniger Bio-Kunden, höhere Kosten
Bei manchen Trägern wie dem Fleckenbühler Hof in Cölbe (Marburg-Biedenkopf) kommen aktuell gleich eine ganze Reihe von ungünstigen Entwicklungen zusammen. Auf dem weitläufigen Hof leben und arbeiten Menschen mit Suchtproblemen. Die Heizkosten sind im Frühsommer schon um 50 Prozent gestiegen, in den Verhandlungen mit dem Versorger zeichnet sich ab, dass 110 Prozent Steigerung noch kommen werden, bis zu 80.000 Euro mehr, sagt Geschäftsführer Hermann Schleicher.
Aber die Fleckenbühler haben noch mehr Probleme: Sie betreiben Biolandwirtschaft, eine eigene Bio-Gastronomie mit Laden und ein Umzugsunternehmen. Eigentlich eine gut laufende Kombination, nur sparen die Menschen gerade. Der Umsatz bei Bioprodukten bricht ein, die Gastronomie hat bis zu 40 Prozent Einbußen und das Umzugsunternehmen muss mit den hohen Kraftstoffpreisen zurecht kommen.
Ist die Talsohle schon da?
Fleckenbühl ist auf die Einnahmen aus den Betrieben angewiesen, die Fixkosten müssen gedeckt werden, Spenden oder Zuwendungen aus Bußgeldern seien nicht dazu da, dass der Betrieb irgendwie überlebt, sagt Schleicher. "Die Kosten kann ein sozialer Träger auf Dauer nicht auffangen", die Frage sei deswegen: "Können wir die Talsohle, die noch gar nicht erreicht ist, durchschreiten und unsere Angebote im nächsten Jahr noch am Start haben?"
Die Hoftüren in Fleckenbühl stehen Menschen, die von den Drogen wegkommen wollen, jederzeit offen und das soll so bleiben, wie Schleicher betont. Während Corona sei das bereits eine Herausforderung gewesen, man habe gehofft, dieses Jahr endlich durchatmen zu können. Aber jetzt seien alle schon im nächsten Krisenmodus.