"25 Jahre gearbeitet, jetzt 1.100 Euro" Erst Long Covid, dann der Existenzkampf
Mindestens zehn Prozent aller Corona-Infizierten leiden laut WHO an Long Covid. Betroffene, bei denen die Symptome anhalten und die deshalb nicht mehr arbeiten können, geraten in Existenznot - und fühlen sich vom Sozialsystem allein gelassen. Ein Beispiel aus Gießen.
Vor der Corona-Pandemie hatte Nadine Scheu große Pläne. Tausende Euro hatte die alleinerziehende Mutter aus Gießen-Lützellinden in Schulungen gesteckt und ihren Meister im Nageldesign gemacht, im Keller ihres Hauses ein Studio eingerichtet. Ein Nebenjob an der Uni Gießen sollte sie finanziell absichern, um sich nach und nach einen Kundenstamm aufzubauen.
Doch dann kam der März 2020 und Scheu infizierte sich mit dem Coronavirus. Insgesamt neun Wochen lang war sie coronapositiv, fünf Wochen hatte sie Fieber, eine Woche musste sie in die Klinik, ein dreiviertel Jahr plagte sie eine Herzmuskelentzündung. Ihren Job an der Uni konnte die gelernte Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte nie antreten, ihr Gewerbe musste sie inzwischen abmelden.
Alltag fordert regelmäßig Tribut
Denn die 45-Jährige kann nicht arbeiten: Von der Infektion geblieben sind ein Belastungsasthma, Wortfindungs- und Konzentrationsstörungen und das so genannte Fatigue-Syndrom, eine bleierne Müdigkeit schon nach geringer Anstrengung. Schon der Alltag mit einem Kindergartenkind und einer pubertierenden Tochter fordert regelmäßig seinen Tribut: Dann hat Scheu so genannte "Crashs", bei denen sie sich so krank fühlt, dass sie kaum aufstehen kann.
Hilfe hat sie zu wenig: Ihr Ex-Mann nehme den kleinen Sohn zwei Mal die Woche und nach Absprache, ihre Eltern leben in Marburg, die Mutter sei schwer krank. Scheu musste mit immer weniger Geld auskommen: Eineinhalb Jahre erhielt sie noch Krankengeld, ein Jahr Arbeitslosengeld, seit Oktober 2022 bezieht sie Hartz IV, das im Januar durch das neue Bürgergeld ersetzt wurde.
"Ich habe immer sehr gerne und viel gearbeitet" erzählt sie. "Jetzt aufs Amt angewiesen zu sein, fühlt sich wie eine Niederlage, ein Versagen an." Rund 1.100 Euro bekommt sie aktuell. Unterhalt, Kindergeld und Geld aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung werden auf das Bürgergeld angerechnet. "Da bleibt nicht viel zum Leben", rechnet sie vor.
Erwerbsminderungsrente würde helfen
Helfen würde eine Erwerbsminderungsrente auf Zeit, zwei oder drei Jahre, sagt Scheu. Etwa 1.300 Euro wären das bei ihr und es würde weniger angerechnet, der Berufsunfähigkeitsrente etwa bliebe ihr vollständig. Zwei entsprechende Anträge wurden aber abgelehnt.
Das Problem, das Scheu mit vielen Long-Covid-Patienten teilt: Die Beschwerden sind vielfältig, mit herkömmlichen Untersuchungsmethoden oft aber wenig greifbar. Und so tun sich die Sozialversicherungen schwer mit dem Umgang mit solchen Patientinnen und Patienten.
Gegenwärtig gebe es noch keine abschließende Definition einer Long-oder Post-Covid-Beeinträchtigung, schreibt die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Hessen auf hr-Anfrage. "Für den Rentenversicherungsträger stehen bei der Wertung der gesundheitlichen Einschränkungen die Funktionseinschränkungen der betroffenen Person im Vordergrund", heißt es weiter. "Inwieweit diese Einschränkungen durch eine Virusinfektion mit dem Corona-Erreger entstanden sind, ist daher zunächst zweitrangig." Würden also am Ende Renten gewährt, seien diese oft nicht auf Corona-Infektion zurückzuführen. Im Klartext: Die Rentenversicherung hat keine Zahlen darüber, wie viele Rentenanträge aufgrund von Long Covid gestellt und / oder bewilligt wurden.
Anders sieht es bei Reha-Anträgen aus. Hier wird ein Zusammenhang mit Covid-19 erhoben. Laut Diagnosen in den Entlassungsberichten wurden nach Angaben der DRV Hessen im Jahr 2021 insgesamt 14.035 Reha-Leistungen im Zusammenhang mit Covid-19 durchgeführt, davon 10.054 Rehabilitationen für so genannte Folgezustände nach Covid-19. Im Jahr 2020 wurden demnach 1.352 Reha-Leistungen im Zusammenhang mit Covid-19.
Folgen der Reha katastrophal
Eine Reha trat auch Scheu an, nachdem sie ihren ersten Rentenantrag gestellt hatte. Die Rentenversicherung bestand darauf, obwohl der Amtsarzt des Arbeitsamts sie für nicht vermittelbar hielt, weil sie kaum drei Stunden arbeiten könne.
Die Folgen der Reha seien katastrophal gewesen, berichtet Scheu, denn sie sei schlicht fehlbehandelt worden. Auf dem Programm habe Nordic Walking und Gruppentherapie gestanden - gebraucht hätte sie Dinge wie Atem- oder Konzentrationsübungen und vor allem Erholung. Wie schon bei anderen Ärzten sei behauptet worden, ihre Beschwerden seien vor allem psychisch.
Am Ende habe ihr der dortige Gutachter Leistungsfähigkeit bescheinigt. Sie könne bis zu sechs Stunden arbeiten, zum Beispiel als Pförtnerin, hieß es - in der Folge wurde der Antrag auf Erwerbsminderungsrente abgelehnt. Dieselbe Begründung stand in der zweiten Ablehnung. "Meine Lebensumstände wurden überhaupt nicht berücksichtigt", ärgert sich Scheu.
VdK: Erfahrungswerte fehlen
Der Sozialverband VdK berät Long-Covid-Patientinnen und Patienten, die Rentenanträge stellen wollen - teilweise steigt die Nachfrage stark, wie etwa der Bezirk Kassel berichtet, teils war sie schon höher, wie der Bezirk Gießen mitteilt. Es sei aber von einer hohen Dunkelziffer an Betroffenen auszugehen.
Es fehlten Studien, ausreichend Erfahrungswerte und in Long-Covid-Symptomen geschulte Gutachter, erklärt Christof Walter, Leiter der Rechtsberatung beim VdK Hessen-Thüringen. So gebe es auch noch keine sogenannten MdE-Tabellen (MdE: Minderung der Erwerbsfähigkeit, d.Red.), die die Schwere der Erkrankung festlegten: "Bei vielen Versicherten scheitert bislang eine Rentenzahlung daran."
Es sei schwer, Betroffenen einen pauschalen Rat zu geben, nur so viel: "Betroffene sollten zu Fachärzten gehen, aber nicht nur die Diagnosen, sondern unbedingt auch die Auswirkungen auf den Alltag dokumentieren."
"Permanente Existenzangst hilft nicht"
Nadine Scheu ärgert sich über die Bürokratie. Die Rentenversicherung habe jedes Mal neue Gutachter bestellt. "Und das, obwohl von mir schon zig Unterlagen vorliegen", sagt sie kopfschüttelnd. Denn schon seit dem Sommer 2020 wird sie von Ärzten der Uni Gießen zu Long Covid-Forschungszwecken begleitet.
Auch psychologische und neurologische Gutachten lägen vor, die unter anderem das Fatigue-Syndrom erklärten und ihr ebenfalls Long Covid bescheinigten. Sie will nun einen Rechtsbeistand suchen. Es sei sowieso schon unsicher ob und wann sie wieder gesund werde, sagt sie. "Die permanente Existenzangst hilft dabei nicht gerade." Denn eigentlich möchte sie einfach nur wieder in ihrem Job arbeiten.
Sendung: hr4, 17.02.2023, 10 Uhr
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