Erste Suizidologie-Professorin Deutschlands "Wir wissen noch nicht viel über Faktoren, die vor Suizid schützen"

Seit November gibt es in Frankfurt die deutschlandweit erste Professur für Suizidforschung. Ute Lewitzka spricht im Interview über ihre Ziele und Herausforderungen - und einen hartnäckigen Irrglauben, der bessere Suizidprävention verhindert.

Frau mit kurzen blonden Haaren und rotem Blazer schaut in die Kamera, im Hintergrund sind grüne Büsche und ein weißes Gebäude zu erkennen.
Ute Lewitzka ist mit ihrer Professur zu Suizidforschung an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie angesiedelt. Bild © hessenschau.de

Sie ist die Erste in ganz Deutschland: Seit Anfang November hat Ute Lewitzka an der Goethe-Universität in Frankfurt eine Professur inne, die sich eigens der Suizidforschung widmet. Dafür ist Lewitzka vom Universitätsklinikum Dresden, an dem sie bisher geforscht und gelehrt hat, nach Frankfurt gewechselt.

Im Interview erklärt sie, welche blinden Flecken es in der Forschung noch gibt, wo sich der gesellschaftliche Umgang mit dem Thema verbessern muss und gegen welchen verhängnisvollen Irrglauben sie ankämpft.

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Das Gespräch führte Pia Stenner

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hessenschau.de: Sie sind deutschlandweit die erste Professorin für Suizidologie und Suizidprävention. Warum gab es eine solche Professur bisher noch nirgendwo?

Ute Lewitzka: Suizidologie, die Wissenschaft zum Thema Suizid, umschließt wirklich ein großes Feld. Ich glaube, deswegen hat es so lange gedauert, bis es eine solche Professur überhaupt gab. Es ist ein Thema, das das ganze Leben umspannt: Es fängt spätestens im Jugendalter an und hört im hohen Lebensalter auf.

Und ich kann diese Wissenschaft in der Zelle beginnen, in der neurobiologischen Forschung, aber es geht bis hin zur Präventionsforschung. Ich kann es historisch, ethisch, philosophisch oder soziologisch betrachten - das ist einfach ein unfassbar breites Feld.

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hessenschau.de: Warum braucht es eine eigene Professur? Beschäftigen sich Bereiche wie die Psychiatrie nicht ohnehin mit dem Thema?

Lewitzka: Guter Punkt. Natürlich ist das ein großes Feld innerhalb der "Psych-Fächer", weil Suizidalität häufig im Kontext von psychischen Erkrankungen auftritt. Aber nicht nur.

Suizidalität tritt auch außerhalb von psychiatrischen Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen oder Substanzkonsum auf. Insbesondere, wenn Menschen belastende Situation erfahren.

Das kann der Jobverlust sein, eine Trennung, eine Kränkung, der Verlust von jemandem. Diese Menschen haben ja nicht sofort eine psychiatrische Erkrankung. Sie können aber in diesem Erleben dieser belastenden Situation durchaus starke suizidale Gedanken entwickeln.

Deshalb ist es wichtig, auch das zu stärken, was Menschen außerhalb von Kliniken und von psychiatrischer Versorgung niedrigschwellig angeboten wird.

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Zur Person

Ute Lewitzka ist 1972 geboren. Sie studierte in Berlin und Dresden Humanmedizin, woran sie die Ausbildung zur Fachärztin der Psychiatrie und Psychotherapie anschloss. Neben der Professur in Frankfurt ist sie unter anderem weiterhin als ehrenamtliche Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention tätig.  

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hessenschau.de: Wie weit ist die Forschung in dem Bereich - wenn es bislang keine eigene Professur gab?

Lewitzka: Die gute Nachricht ist: Es ist schon viel erforscht. Wir wissen gut Bescheid über Risikofaktoren, die zur Entstehung von Suizidalität beitragen. Wir wissen nicht so viel über Faktoren, die vor Suizid schützen, aber das wird besser.

Es gibt ein detailliertes Wissen über neurobiologische Mechanismen, die damit im Zusammenhang stehen. Das reicht von genetischen Befunden über den Stoffwechsel im Gehirn oder die Funktion von Nervenzellen. All diese Sachen. Das Hauptproblem ist, dass mit all diesem Wissen die Prädiktion eines Suizids noch nicht besser geworden ist.

Wenn ein Betroffener vor mir sitzt, weiß ich nicht wirklich, wie gefährdet er ist. Ich mache ein Risiko-Assessment und kann dann versuchen, einzuschätzen, wie akut es ist. Aber letztlich nehmen sich von zehn Menschen, die ich als 'sehr akut' einstufe, nicht alle zehn das Leben. Um diese Prädiktion zu verbessern, braucht es sehr valide Daten.

Laut dem Statistischen Bundesamt nahmen sich 2023 rund 10.300 Menschen in Deutschland das Leben, rund 1,8 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
In Hessen zählte das Statistische Landesamt 808 Suizide. Damit ist die Zahl weit höher als beispielsweise die Zahl der Verkehrstoten, die in Hessen bei 188 lag.

Wir haben in Deutschland zwar eine relativ gute Statistik zu Suiziden, aber überhaupt gar keine systematische Erfassung von Suizidversuchen - die ja viel häufiger passieren: Es sind - je nach der Studie, die man sich anschaut - rund zehn- bis 50-mal mehr Versuche als tatsächliche Suizide.

hessenschau.de: Warum sind diese Daten für Sie wichtig?

Lewitzka: Man kann eine größere Gruppe von Menschen statistisch besser untersuchen. Und es ist wichtig, weil ein vorheriger Suizidversuch immer noch die stärkste Variable zur Vorhersage eines späteren Suizids ist. Das heißt: Auf diese Menschen müssen wir besonders gut aufpassen.

hessenschau.de: Stichwort Prävention, ein Hauptgebiet Ihrer Forschung. Wie lassen sich Suizide verhindern?

Lewitzka: Es ist gut untersucht, dass es wirksam ist, gesunde Menschen anzusprechen. Da geht es um Aufklärung, Entstigmatisierung und um Kompetenzvermittlung. Also: 'Wie kann ich erkennen, dass es mir nicht gut geht? Wo kann ich Hilfe bekommen? Welche Hilfe gibt es?' Das wirkt schon, da gibt es schöne Arbeiten drüber.

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Es ist gut untersucht, dass es wirksam ist, gesunde Menschen anzusprechen. Da geht es um Aufklärung, Entstigmatisierung und um Kompetenzvermittlung. Zitat von Ute Lewitzka
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Die stärkste Evidenz, also nachweisliche Wirksamkeit, im Bereich der Prävention besteht tatsächlich für die sogenannte Methoden-Restriktion. Das heißt, man erschwert oder reduziert den Zugang zu einer Methode, mit der sich Menschen das Leben nehmen könnten.

Das hat eine gewisse Grenze.Die häufigste Methode in Deutschland ist tatsächlich das Erhängen ist. Mittel zum Erhängen können Sie nicht einschränken. Die sind überall verfügbar.

hessenschau.de: Bei welchen Methoden funktioniert es besser?

Lewitzka: Das fängt bei Medikamentenvergiftungen an. Da können Sie den Zugang etwas erschweren, indem sie Packungsgrößen verkleinern.

Auch Schienen-Suizide sind ein wichtiges Thema. Wir wissen, dass die an bestimmten Stellen gehäuft auftreten. Es gibt bestimmte Hotspots in jedem Bundesland. Das können Schienenabschnitte, Bauwerke oder Naturdenkmäler sein.

Hier könnte man sagen: 'Okay, diese Abschnitte kann man sichern.' Es ist aber wahnsinnig schwer, die Verantwortlichen zu überzeugen, dass eine Sicherung genau dieses Ortes sinnvoll ist.

hessenschau.de: Warum?

Lewitzka: Der größte Widerstand besteht immer noch in diesem Mythos: 'Wenn wir jetzt diese Brücke sichern, springt die Person von einer anderen.' Dabei ist super gut erforscht, dass das ganz selten stattfindet. Die wenigsten Menschen nehmen sich an dem Tag, an dem sie es versuchen wollten - oder auch später - mit einer anderen Methode das Leben.

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Der größte Widerstand besteht immer noch in diesem Mythos: 'Wenn wir jetzt diese Brücke sichern, springt die Person von einer anderen.' Zitat von Ute Lewitzka
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Das Leben der allermeisten rettet man wirklich, wenn man ihnen in diesem absoluten Tunnel die Methode nimmt, die sie sich überlegt hatten - und diese Einsicht muss in die Köpfe rein.

hessenschau.de: Gibt es noch andere Bereiche, wo Sie sagen: Da braucht es ein gesellschaftliches Umdenken?

Lewitzka: Es gibt einen Bereich, wo ich das wirklich auch noch als Tabu erlebe: Wenn es in einer Familie einen Suizid gegeben hat, die zum Beispiel aus einer eher kleineren Gemeinde kommt. Da hört man häufig noch, dass ein Mantel des Schweigens darübergelegt wird. Das ist für die Hinterbliebenen furchtbar. Helft den Leuten, sprecht sie an, fragt, was sie in dieser schweren Zeit brauchen!

hessenschau.de: Und abgesehen vom ländlichen Raum?

Lewitzka: Allgemein sehe ich über die letzten Jahre dahingehend eine Veränderung, dass wir im öffentlichen Diskurs sogar relativ oft über das Thema sprechen. Bei einem durchschnittlichen Medienkonsum - im Tatort, in der Zeitschrift, auf Social Media - da wird das Thema aufploppen, und zwar ziemlich häufig.

Was sich ändern muss: wie darüber berichtet wird. In fiktiven Geschichten wird oft dargestellt, dass es nur einen Grund gibt, warum sich eine Person das Leben nimmt. Das wird dem Thema nicht gerecht, denn es ist immer ein Komplex. Und: Häufig werden dabei keine Alternativen aufgezeigt, oder Angebote, wo ein Mensch Hilfe bekommen könnte.

hessenschau.de: Schaut man auf die politische Ebene, gibt es dort aktuell eine Entwicklung. Das Bundeskabinett hat Mitte Dezember einen Entwurf für ein Suizid-Präventionsgesetz beschlossen - etwas, das Sie schon lange fordern.

  • Das Bundeskabinett hat den Gesetzentwurf zur Suizidprävention Ende Dezember beschlossen.
  • Er beinhaltet unter anderem, dass eine Fachstelle für Suizidprävention auf Bundesebene und eine bundesweite Rufnummer für Betroffene eingerichtet werden sollen.
  • Unklar ist, ob der Entwurf durch den Bundestag kommt, da die aktuelle Regierung aus SPD und Grünen keine Mehrheit hat.

Lewitzka: Dass es so einen Entwurf gibt, sehe ich als Meilenstein. Vor fünf Jahren hätte ich daran nicht geglaubt. Es ist auf der politischen Ebene angekommen, dass die Prävention für dieses Thema genauso wichtig ist wie für die Verkehrssicherheit, HIV oder Drogen.

Andere Länder fördern diese Prävention staatlich verankert schon lange. Wenn Sie sich da die Summen anschauen, da schlackern Ihnen die Ohren.

Natürlich kann man die Systeme meistens nicht gut vergleichen, aber trotzdem nimmt Deutschland bisher relativ wenig Geld in die Hand, um aktiv etwas für Suizidprävention zu tun. Das liegt auch an diesem Mythos, man könne Menschen sowieso nicht retten, die sich das Leben nehmen wollen.

hessenschau.de: Welches Ziel haben Sie persönlich für Ihre Arbeit in Frankfurt?

Lewitzka: Da habe ich viele. Eines meiner Herzensthemen ist beispielsweise, dass Ärzte und Ärztinnen ein erhöhtes Suizidrisiko haben. Darüber wissen wir in Deutschland wiederum sehr wenig. Das heißt, ich brauche auch hier erstmal valide Daten. Und wir haben in Deutschland kein spezifisches Angebot für Mediziner.

Da wäre es super, wenn wir etwas entwickeln können, was den Medizinern helfen kann, wenn sie in eigene psychische, beziehungsweise mit Suizidalität verbundene Krisen kommen. Das wäre so etwas ganz Konkretes. Darüber hinaus gibt es viele andere Projektideen, die vor allem dazu dienen sollen, Menschen in suizidalen Krisen besser zu helfen.

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Hilfe bei Suizidgedanken

Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Letztere können mit professioneller Hilfe gelindert und auch geheilt werden. Hier finden Sie Hilfsangebote für Betroffene und Angehörige.

Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr kostenfrei und anonym erreichbar unter der bundeseinheitlichen Telefonnummer: 0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222.

Um die Anonymität der Anrufer zu wahren, ist die Übermittlung der Rufnummer gesperrt und wird somit in keinem Display der Telefonseelsorge angezeigt. Anrufe bei der Telefonseelsorge werden auch im Einzelverbindungsnachweis nicht aufgeführt.

Auch im Internet kann die Telefonseelsorge kontaktiert werden unter: telefonseelsorge.de

Weitere Informationen zu Hilfsangeboten - beispielsweise Selbsthilfegruppen - finden sich auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: suizidprophylaxe.de

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Quelle: hessenschau.de