Survivor-Gruppe in Mittelhessen Wie junge Erwachsene nach dem Krebs das Leben feiern

Sie haben überlebt – und trotzdem ist ihr Leben nicht mehr so wie vorher. In Mittelhessen hat sich eine sogenannte Survivor-Gruppe gegründet. Die neue Selbsthilfegruppe richtet sich an junge Erwachsene, die als Kinder oder Jugendliche an Krebs erkrankt waren.

Junger Mann und junge Frau
Johanna Kinzl (re.) hatte als Kind Leukämie, Dennis Buch einen Hirntumor. Bild © Rebekka Dieckmann
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Als Dennis Buch zwei Jahre alt ist, bemerken seine Eltern: Irgendwas stimmt nicht. Ihr aktiver Sohn, der vorher auf jeden Baum klettern wollte, wird immer ruhiger. Nacht für Nacht erbricht er sich. Die Kinderärzte sind ratlos, im Universitätsklinikum in Gießen stellt sich schließlich heraus: Der kleine Dennis hat einen Gehirntumor – und der ist auch noch bösartig.

Es sind nur noch Fetzen, an die sich der mittlerweile 22-Jährige aus Laubach (Gießen) heute noch selbst erinnern kann. An eine VHS-Kassette zum Beispiel, mit einem Film von Lars, dem kleinen Eisbären. Den durfte er immer gucken, wenn er auf Station war. Und an die große Glasscheibe, hinter der Oma und Opa standen und winkten.

Rund 150 Krebsdiagnosen bei Kindern pro Jahr

Dass Kinder an Krebs erkranken, ist äußerst selten. Bei durchschnittlich etwa 150 Kindern unter 15 Jahren wird die Krankheit in Hessen jährlich diagnostiziert. Am häufigsten sind es Leukämien und Hirntumore. Die gute Nachricht: Die Überlebenswahrscheinlichkeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert. Vier von fünf Kinder leben 15 Jahre nach der Diagnose noch.

In Mittelhessen, wo sich am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) eines der größten pädiatrisch-onkologischen Zentren Deutschlands befindet, hat der Elternverein für leukämie- und krebskranke Kinder Gießen mit Sitz in Aßlar (Lahn-Dill) nun eine sogenannte Survivor-Gruppe gegründet. Es ist das erste Angebot dieser Art in ganz Hessen.

Gründerin war selbst Leukämie-Patientin

Die Selbsthilfe-Gruppe richtet sich an junge Erwachsene, die mittlerweile als geheilt gelten. Mit anderen Betroffenen verbindet die sogenannten Cancer Survivor, dass sie oft Ähnliches in ihrer Kindheit erlebt haben: etwa lange Krankenhausaufenthalte, unangenehme medizinische Behandlungen, Ängste oder Ungewissheiten – und manchmal auch körperlichen Spätfolgen und andauernde ärztliche Kontrolluntersuchungen.

Älteres Foto eines Kindes im Krankenhausbett
Johanna Kinzl überlebte ihre Leukämie-Erkrankung dank einer Knochenmarkstransplation ihrer Mutter Bild © privat

Gegründet hat die Gruppe Johanna Kinzl aus Friedrichsdorf (Hochtaunus), die ab einem Alter von sechs Jahren selbst Leukämie-Patientin am UKGM war. Heute engagiert sich die 32-Jährige im Elternverein. "Bei der Survivor-Gruppe geht es um das Problem nach dem Problem", sagt Kinzl.

Survivor-Gruppe sucht noch Mitglieder

Bei regelmäßigen Gruppentreffen und gemeinsamen Aktionen und Ausflügen in der Region sollen die jungen Erwachsenen die Möglichkeit bekommen, sich über ihre Erfahrungen auszutauschen, sich gegenseitig zu ermutigen, aber auch konkrete Tipps für die Nachsorge zu bekommen.

Bisher sind laut Kinzl etwa zehn Personen interessiert, die Gruppe ist aber offen für weitere Teilnehmer. Das erste Treffen steht noch aus und soll in den kommenden Wochen stattfinden. Weitere Informationen gibt es über den Elternverein.

Wie sieht ein Leben nach dem Krebs aus?

Kinzl erklärt: Die Survivor-Gruppe soll jungen Menschen Möglichkeit zum Austausch geben. Wie sieht ein Leben nach dem Krebs aus? Wie geht man um mit der Sorge, dass die Krankheit doch wieder zurückkommen könnte? Und wie organisiert man die Nachsorge, wenn sich irgendwann nicht mehr die Eltern um die Arzttermine kümmern, sondern man selbst Verantwortung übernehmen muss?

Das Thema Nachsorge von Krebspatienten liege ihr besonders am Herzen, sagt Kinzl. Für junge Erwachsene sei es häufig ein großer und schwerer Schritt, sich irgendwann selbst darum zu kümmern. Das sei auch bei ihr so gewesen.

"Als ich ins Teenager-Alter kam, hat meine Mutter gesagt: So, jetzt beantwortest du mal die Fragen des Arztes - du bist ja die Patientin und nicht ich." Das habe sie damals erst mal völlig überfordert. "Ich war sogar richtig sauer auf sie", meint Kinzl. Heute könne sie ihre Mutter durchaus verstehen.

"Als Kind kann man vieles verdrängen"

Kinzl meint: Als Kind funktioniere man in so einer Situation einfach. Was solle man auch sonst tun? Sie glaubt: Für die Eltern und andere Angehörige sei die Krebserkrankung eines Kindes sogar oft belastender als für die Betroffenen selbst. "Kinder können vieles ja ganz gut verdrängen, die Eltern sind so eine Art Puffer."

Sie selbst habe die Jahre auf der Krebsstation sogar als überwiegend positiv in Erinnerung. "Ich fand das immer toll: Wenn ich so eine blaue Spritze bekommen habe, durfte ich die danach hinten in mein Dreirad laden und damit durch den Flur düsen."

Da kam das Leben dazwischen

Je älter sie geworden sei und je mehr sie ihre Kindheit reflektiert habe, desto mehr habe sie allerdings gemerkt: Auch sie habe ein seelisches Päckchen zu tragen. "Irgendwo sind dann doch Barrieren oder Denkmuster, die sich aufgebaut haben und vielleicht gar nicht stimmen", meint sie. Auch wenn es einem wieder körperlich gut gehe, habe das ja doch was mit der Psyche gemacht.

So richtig gemerkt, dass sie eine "Überlebende" ist, habe sie erst als Jugendliche. Im Fernsehen habe sie einen beiläufig gesagten Satz gehört: Da kam das Leben dazwischen. "Da habe ich plötzlich gedacht: Ja, auch bei mir kam das Leben dazwischen - und nicht der Tod." Das Motto der Gruppe soll deshalb auch sein, gemeinsam das Leben zu feiern.

Krebs hat nicht nur Narben hinterlassen

Zwanzig Jahre nach der Diagnose ist vom Tumor im Kopf von Dennis Buch nichts mehr übrig. Chemotherapie, Strahlentherapie und schließlich eine Operation hatten Erfolg. Geblieben sind eine große Operations-Narbe am Nacken und eine kleine Delle kurz hinter dem Haaransatz an der Stirn. Da sei er mal aus dem Krankenbett gepurzelt, erzählt Buch. "Ich werde heute oft beim Friseur darauf angesprochen."

Aber der Krebs hat in seinem Leben nicht nur Narben hinterlassen. Sondern auch den tiefen Wunsch, anderen Menschen zu helfen. Buch erzählt: Nach der Schule habe er erst mal ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) beim Deutschen Roten Kreuz gemacht, seither gebe er regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse. Lange Zeit habe er auch Medizin studieren und selbst Onkologe werden wollen.  

"Aber ich hab dann festgestellt, dass es für mich wahrscheinlich gar nicht so gut wäre, permanent von diesem Thema umgeben zu sein", meint er. Deshalb habe er sich entscheiden, stattdessen Grundschullehramt zu studieren. Auch damit könne er schließlich anderen helfen.

Weitere Informationen

Sendung: hr4, 5.4.2024

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Quelle: hessenschau.de