Fachkräftemangel Vater hilft mit 73 Jahren in Physio-Praxis der Tochter aus
Wer in Hessen nach einer Verletzung oder Operation zur Physiotherapie will, muss oft sehr lange warten. In den Praxen fehlt es an Personal. Eindrücklich zeigt sich das in der Praxis von Laura Baumgardt.
Mit routinierten Händen knetet Gerhard Baumgardt einen Patienten durch. Als er am Schulterblatt ankommt, hält er kurz inne: "Wir können mit unseren Fingen vieles spüren. Merken Sie die Verspannung auch?"
Eigentlich sollte der 73-Jährige längst in Rente sein. Seine Tochter Laura Baumgardt übernahm 2018 die Physiotherapie-Praxis in Egelsbach (Offenbach). Aber seitdem findet sie kein Personal, um die personelle Lücke zu füllen – Gerhard Baumgardt macht also weiter: "Mir macht es noch großen Spaß. Aber wenn ich mal nicht mehr kann und meine Tochter das allein machen muss, dann wird es schwierig."
Die 35-jährige Laura Baumgardt steckt in einem Gewissenskonflikt: "Ich freue mich, dass wir zusammenarbeiten. Aber er soll ja seine Rente auch genießen und nicht immer weiterarbeiten, damit ich die Praxis aufrechterhalten kann."
Seit Jahren auf Personalsuche
Dass Vater Gerhard noch immer die Stammpatientinnen und -patienten in Egelsbach versorgt, ist eine Folge des Fachkräftemangels in der Physiotherapie. Laura Baumgardt erzählt: "Wir haben überall Stellenausschreibungen laufen, über den Verband und online. Ich habe unheimliche Schwierigkeiten, Leute zu finden."
Im Januar 2024 waren 285 offene Stellen für Physiotherapeut:innen in Hessen gemeldet, laut der Bundesagentur für Arbeit. 242 Tage dauert es im Schnitt, eine Stelle zu besetzen. Doch Laura Baumgardt sucht schon deutlich länger.
Man fragt sich natürlich, was ist, wenn mein Vater und meine Angestellte wegbrechen. Was, wenn keine jungen Leute nachkommen und ich es als Einzelperson nicht mehr stemmen kann? Zitat von Praxisinhaberin Laura BaumgardtZitat Ende
Drei Stellen könnte die 35-Jährige in ihrer Praxis besetzen. Patientinnen und Patienten gebe es genug, die Warteliste sei voll: "Wir können kaum neue Akutpatienten aufnehmen. Man hat nie das Gefühl, genug zu machen, man wird nie fertig."
Hessen ist Schlusslicht
Das bedeutet Stress für Laura Baumgardt, aber auch für die Patientinnen und Patienten ohne Termin. Yvonne Massuger vom Verband für Physiotherapie Hessen betont: "Das ist mehr als ein Einzelfall. Wir bekommen die Rückmeldung, dass es in den Praxen sehr schwierig ist. Wegen des Personalmangels können viele Termine nicht vergeben werden."
Hessen ist deutschlandweit Schlusslicht, was die Anzahl der Physiotherapie-Behandlungen im Verhältnis zur Einwohnerzahl betrifft. Das belegen Zahlen des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen. Das liegt nicht nur, aber auch am Fachkräftemangel in den Praxen.
Verband fordert mehr Entscheidungsfreiheit
Um den Beruf attraktiver zu machen, wünscht sich der Physiotherapieverband eine Akademisierung der Ausbildung und höhere Honorare für die Behandlung von gesetzlich Versicherten. Eine weitere Stellschraube könnte mehr Entscheidungsfreiheit sein, zum Beispiel durch so genannte Blankoverordnungen.
"Das ist ein Rezept, in dem der Arzt nur noch die Diagnose reinschreibt. Danach kann der Physiotherapeut selbst über Art, Menge und Frequenz der Behandlung entscheiden", erklärt Yvonne Massuger.
Mehr Autonomie könnte dafür sorgen, dass mehr Physiotherapeutinnen und -therapeuten im Beruf bleiben und wieder mehr Personal dazukommt. Vielleicht auch in Laura Baumgardts Praxis.
Vater Gerhard Baumgardt hätte schon Pläne, wenn Ersatz käme und es mit der Rente endlich klappt: "Mehr Zeit für meine Lieblingssportarten Bergsteigen, Radfahren und Schwimmen. Und ich habe fünf Enkelkinder. Da findet sich schon was!"
Redaktion: Caroline Wornath
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 27.02.2024, 19.30 Uhr