Unter Lebensgefahr geflohen Wie zwei junge Frauen der Zwangsheirat entkamen

Zwangsheirat – passiert nicht nur in fernen Ländern, sondern auch in Deutschland. Zwei junge Frauen erzählen, wie sie sich dagegen wehrten und ihnen die gefährliche Flucht aus ihren Familien gelang. Für sie gibt es nun keinen Weg mehr zurück.

Kombination von zwei Fotos: links Kopf einer Frau unscharf hinter einem Pflanzenblatt; rechts gefaltete Hände einer Frau mit weißen Fingernägeln.
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In Deutschland verheiratet zu werden - gegen den eigenen Willen? Was wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten klingt, ist für einige junge Frauen heute noch bittere Realität. Zwei Betroffene, Jamila und Mirai, haben es geschafft, sich zu widersetzen und aus den Zwängen ihrer Familien auszubrechen.

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Sie berichten von ihrem schwierigen Weg aus einem Leben, das von Kontrolle und Gewalt geprägt war. Die Städte, aus denen die Frauen in Deutschland kommen und die Herkunftsländer der Eltern werden zum Schutz der Frauen nicht genannt. Ihre Namen wurden geändert.

Jamilas Geschichte: "Es war eine arrangierte Begegnung"

Jamila war nach eigenen Angaben 18 Jahre alt, als ihre Eltern ihr mitteilten, dass sie heiraten soll. Der Mann, den sie kaum kannte, war zehn Jahre älter als sie. "Ich sah ihn zum ersten Mal, als ich mit meiner Mutter in der Stadt unterwegs war. Später erfuhr ich, dass das kein Zufall war," erzählt Jamila.

Es sei eine arrangierte Begegnung gewesen, sorgfältig geplant. Wenige Wochen später habe der Mann ihr einen Heiratsantrag gemacht. "Ich erklärte ihm, dass ich keine Gefühle für ihn hatte," sagt Jamila. Er habe das einfach abgetan. "Er meinte, die würden mit der Zeit schon kommen."

Ungewolltes Zusammenleben nach der Verlobung

Die Verlobungsfeier fand kurz darauf im Haus ihrer Familie statt. Jamila musste nach der Feier zu ihrem Verlobten ziehen, sagt sie. Die Hochzeit sollte in Deutschland stattfinden, mit einer erzwungenen Unterschrift vor dem Standesamt. Zwei Wochen habe sie bei ihm gelebt, bis sie den Entschluss gefasst habe, zu fliehen. "Ich hätte nie geglaubt, dass meine Eltern mir so etwas antun könnten."

Drei Frauen sitzen auf einer Treppe an einem Fluss
Zwei Frauen auf dem Bild waren von Zwangsheirat bedroht, das Foto ist absichtlich unscharf, damit die Frauen nicht erkannt werden können Bild © hr

Gefährliche Flucht und Todesdrohung

Sie packte ein paar Dokumente und Geld zusammen und ging zur Polizei, eine Freundin habe sie unterstützt. Mit im Gepäck die Angst: "Ich dachte, wenn ich jetzt gehe, könnte es sein, dass ich in den nächsten Tagen, während ich auf der Flucht bin, sterbe", sagt Jamila.

"Was wird passieren, wenn mich jemand findet?" Ihre Familie habe versucht, sie zu finden und sie bedroht. Wochenlang habe sie nicht schlafen können. "Meine Mutter rief mich an und sagte: 'Wir werden kein Auge zu tun, bis du tot bist'."

Jamila schaffte es mit der Hilfe der Polizei in ein Frauenhaus und später zu VAIA!, einer Beratungsstelle in Frankfurt, die auf Zwangsheirat spezialisierte Unterstützung und anonyme Schutzwohnungen bietet. "Meine Betreuerin ist wie meine beste Freundin, sie hilft mir im Alltag zum Beispiel mit meinen Finanzen", sagt sie.

Gewalt in der Familie: "Ich hasse meine Mutter"

Ihre Kindheit sei von strengen, traditionellen Werten und einer klaren Hierarchie innerhalb der Familie geprägt gewesen, sagt Jamila. Sie erzählt von körperlichem Missbrauch, wenn sie zu spät nach Hause kam oder die Hausarbeit nicht richtig verrichtete. Ihr Handy sei ständig kontrolliert worden, besonders durch ihre Mutter.

"Ich empfinde Hass gegenüber meiner Mutter. Sie war nie für mich da, sie hat mich nie verstanden. Wenn ich einen Fehler gemacht habe, hat sie mich wochenlang ignoriert."

Schon als Kind habe sie gespürt, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse in der Familie wenig zählten. Während ihre Brüder mehr Freiheiten genossen, sei von ihr und ihren Schwestern erwartet worden, sich den strikten Regeln der Familie zu unterwerfen.

Als ihre Lehrer von den Zuständen erfuhren, hätte sie das Jugendamt kontaktiert. Sie habe dann die Familie verlassen, sei dann aber wieder zurückgekehrt. Es sei der Familie durch Manipulationen gelungen, sie immer wieder zurückzuholen.

Mirais Geschichte: "Warum wurden wir überhaupt geboren?"

Auch Mirai wuchs in einer Familie auf, in der strikte patriarchalische Werte vorherrschten. "Meine Mutter sagte immer, dass eine Frau nur für ihren Mann leben sollte. Alles, was man tut – Arbeiten, Kinderkriegen – sei nur für den Mann", erzählt die junge Frau.

Ihre Kindheit sei von Kontrolle und ständigen Drohungen geprägt. "Für Kleinigkeiten gab es Ärger. Wenn ich meine Schuhe nicht wegräumte oder den Haushalt nicht ordentlich erledigte oder meinem Vater Tee brachte, der ihm zu dunkel war, wurde ich geschlagen."

Der Unterschied zwischen Söhnen und Töchtern sei in der Familie enorm. "Wir Mädchen wurden wie Vieh behandelt, und ich fragte mich oft, warum wir überhaupt geboren wurden, wenn wir doch sowieso nur wie Sklaven leben sollen", sagt sie.

Ständige Angst bestimmt den Alltag

Mirai beschreibt die Gewalt, die sie erlebte, als physisch und psychisch. "Mein Großvater, der hier in Deutschland lebt, meinte sogar, er würde mich erschießen, wenn ich nicht gehorche."

Die Situation habe sich verschlimmert, als sie das Teenageralter erreichte. Sie habe an Selbstmord gedacht und auch versucht, sich das Leben zu nehmen. "Meine Eltern ließen mir kaum Freiheiten. Ich wurde zur Arbeit gebracht und abgeholt, wenn ich mich mit Freundinnen traf, wurden meine Eltern sofort misstrauisch", erzählt sie.

Ihr Leben sei darauf ausgerichtet gewesen, sich den Erwartungen ihrer Familie zu fügen. Aber der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben sei immer da gewesen.

Plötzlich stehen Männer mit Blumen da

Vor ein paar Monaten haben Mirai und ihre Eltern Besuch von einer Familie bekommen, die sie zuvor in der Moschee getroffen haben. "Man erkennt solche Situationen sofort, das habe ich so schon bei meinen Cousinen gesehen", erzählt die junge Frau. "Da standen plötzlich Männer mit Blumensträußen, ganz schick angezogen. Sie stellten Fragen wie: ‚Wann bist du mit der Schule oder Ausbildung fertig?‘"

Der Wendepunkt sei für sie an dem Abend gekommen, als sie zwei Stunden später als vereinbart nach Hause kam. "Meine Eltern schubsten mich, schrien mich an und zerstörten mein Handy. Ich rannte zur nächsten Polizeistation – ohne Schuhe." Über ein Frauenhaus gelangte auch sie schließlich zu VAIA!.

Dutzende Fälle und eine hohe Dunkelziffer

Die Fälle bei VAIA! häufen sich nach Angaben der Geschäftsführung. Seit der Gründung der Beratungsstelle 2022 stiegen die Fallzahlen jedes Jahr, erklärt Geschäftsführerin Marion Lusar – auch weil die Frauenhäuser leichter zugänglich und die Zusammenarbeit mit der Polizei besser geworden sei.

"Im Jahr 2023 hatten wir 55 Fällen und bis jetzt für dieses Halbjahr haben wir schon weit über 30 Fälle." Rechne man das hoch, käme man für 2025 "bestimmt auf mindestens 70 bis 80 Fälle".

Deutschlandweit sind dem Bundeskriminalamt (BKA) 2023 insgesamt 80 Fälle bekannt, in Hessen gab es laut Polizei vier versuchte und zwei vollendete Zwangsheiraten, die von den Frauen nach § 237 StGB zur Anzeige gebracht wurden, es drohen Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren. Die Behörden gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, auch weil viele Frauen ihre Familien eben nicht anzeigten.

Die meisten Fälle im Ausland

Viele Fälle fließen nicht in die Statistik mit ein. "Wenn eine junge Frau zur Polizei geht und beschreibt, wie ihre familiäre Situation war, wird es oft als Delikt gegen die körperliche Selbstbestimmung erfasst, aber nicht als versuchte Zwangsheirat,“ so Marion Lusar von VAIA!.

Von Zwangsheiraten sind in erster Linie Mädchen und Frauen betroffen, aber auch Männer werden zwangsverheiratet. "Die meisten Fälle von Zwangsverheiratung finden tatsächlich im Ausland statt. Beispielsweise in Sri Lanka, der Ukraine, in Russland, China, Afghanistan, Syrien, Taiwan, Kuwait. Überall dort wo patriarchale Systeme wirken, finden Zwangsverheiratungen statt.“

Gründe für Zwangsverheiratungen

Die Gründe für Zwangsheiraten sind nach Angaben des Beratungszentrums FIM in Frankfurt vielfältig. Neben dem moralischen Druck innerhalb der Familie spielten oft auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle, in manchen Fällen werde für eine Hochzeit bezahlt oder die Heirat werde religiös legitimiert, erklärt Elvira Niesner von FIM.

Elvira Niesner von FIM
Elvira Niesner von FIM Bild © hr

FIM vertritt das "2RegionenNetzwerk", einen Verbund von neun Fachstellen gegen Gewalt im Namen von "Ehre", Tradition oder Glauben in ganz Hessen. "Hessenweit hatten wir 2023 100 Fälle von Zwangsverheiratungen in allen unseren Beratungsstellen", so Niesner.

"Es gibt immer wieder Fälle, in denen Minderjährige ins Ausland verschleppt werden. Die Eltern nehmen den Mädchen Pässe und Handys ab." Die Mädchen zurückzuholen sei in diesen Fällen dann kaum noch möglich. Besonders in der Ferienzeit sei die Gefahr für die Mädchen und Frauen groß.

Ein Leben nach der Flucht für Mirai und Jamila

Für Mirai und Jamila gibt es Hilfe bei VAIA!, sie konnten sich aus ihrem gewalttätigen Umfeld befreien. Sie können zur Ruhe kommen, durchatmen und werden während ihrer Ausbildung unterstützt, zu Arztbesuchen oder Therapien begleitet und bekommen Unterstützung bei ihrer Freizeitgestaltung.

"Ich spüre eine Veränderung in mir, die ich vorher nie für möglich gehalten hätte", sagt Jamila. Ihre Eltern hätten ihr immer gesagt, sie würde es nie alleine schaffen. "Aber jetzt stehe ich hier und kann sagen, dass ich es geschafft habe – ohne ihre Hilfe, darauf bin ich so stolz." Und Mirai ergänzt: "Ich kann jetzt endlich Luft holen, frei atmen, ohne dass mich jemand überwacht."

Beide Frauen haben ihre Vergangenheit hinter sich gelassen, doch das Erlebte tragen sie immer mit sich, erzählen sie. Aus ihrem alten Leben mussten die Frauen alles und jeden zurücklassen auch Freunde, die sie unterstützt haben. Für viele unvorstellbar, aber für Mirai und Jamila der einzige Weg in ein selbstbestimmtes Leben.

Redaktion: Katrin Kimpel

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de