Bensheimer Zeltstadt fast abgebaut Flüchtlingssituation im Kreis Bergstraße entspannt sich - vorerst

Mit seiner Zeltstadt zur Unterbringung von Flüchtlingen sorgte Bensheim bundesweit für Schlagzeilen. Mittlerweile hat sich die Situation an der Bergstraße entspannt. Grund zur Entwarnung sieht der Kreis allerdings noch nicht.

Zelt von innen, Bauzäune mit schwarzen Planen
Die Zeltunterkunft für Geflüchtete in Bensheim wird derzeit nicht gebraucht. Bild © Anna Vogel
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Die Bilder von der Bensheimer Zeltstadt erlangten im vergangenen Jahr bundesweite Aufmerksamkeit. Bis zu 1.000 Geflüchtete waren dort zeitweise auf engstem Raum untergebracht. Matthias Schimpf (Grüne), als hauptamtlicher Kreisbeigeordneter des Kreises Bergstraße noch heute für die dortigen Flüchtlinge zuständig, sprach in TV-Talkshows über die schwierige Situation.

Deutlich weniger Geflüchtete

Heute ist die Zeltstadt nahezu abgebaut, nur noch rund 300 Plätze will Schimpf für den Notfall noch in Bereitschaft halten. Die Situation hat sich auf den ersten Blick entspannt. Es kommen deutlich weniger Geflüchtete im Landkreis an. Bis Ende August waren es in diesem Jahr laut Schimpf 630, im Jahr 2023 insgesamt 2.188.

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Entwarnung will der Grünen-Politiker dennoch nicht geben. "Wir sind immer noch hinter der Lage", sagt er. Selbst wenn – rein hypothetisch - ab morgen keine neuen Flüchtlinge mehr kämen, so würde es laut Schimpf Jahre dauern, alle Menschen in geordnete Wohnverhältnisse zu bringen.

Downgrade: Von der Wohnung in den Container

Seit Mai 2023 werden vor allem Geflüchtete mit Aussicht auf Bleiberecht vom Kreis den Kommunen zugewiesen. Diese müssen dann die Unterkünfte und das Betreuungspersonal stellen. So auch in Lorsch, wo Schimpf selbst Kommunalpolitiker ist.

Wohncontainer für Flüchtlinge in Lorsch
Downgrade: Von der Wohnung zurück in den Container Bild © Anna Vogel

"Die Kommunen haben meistens Container", berichtet er. Dies führt in Lorsch beispielsweise zu der grotesken Situation, dass Flüchtlinge, die bislang in einer vom Kreis angemieteten Wohnanlage untergebracht waren, in die Container gegenüber ziehen müssen, die der Stadt gehören – gewissermaßen ein Downgrade.

"Zur Integration gehört selbstbestimmtes Wohnen"

In dem Wohnblock haben sich zwar auch mehrere Personen eine Unterkunft geteilt. "Aber es ist eben etwas anderes, ob du mit wenigen eine Wohnung mit Bad, Küche und Aufenthaltsraum hast oder ob du dir im Container Toilette und Bad mit 50 Leuten teilen musst."

Zur Integration gehöre neben Sprache und Arbeit eben auch selbstbestimmtes Wohnen, findet Schimpf. "Und das gelingt immer weniger, teilweise gar nicht." Denn im ohnehin verdichteten Kreisgebiet sei Fläche knapp und der Wohnungsmarkt schon jetzt angespannt.

Eklatanter Personalmangel

Großen Bedarf gibt es aber auch auf anderen Ebenen, insbesondere beim Personal. Denn der Fachkräftemangel macht sich auch in der öffentlichen Verwaltung bemerkbar. Über die prekäre Situation in einigen Ausländerbehörden wie Darmstadt oder Frankfurt hatte auch hessenschau.de mehrfach berichtet.

"Wir finden schlicht und ergreifend die Arbeitskräfte nicht auf dem Markt", beklagt Schimpf. Auf dem Ausländeramt mit seinen verschiedenen Rechtsgebieten etwa sei mindestens eine klassische Verwaltungsausbildung nötig.

Wer die habe, suche sich aber eher eine Stelle bei einer anderen Behörde als dem wenig beliebten Ausländeramt. Auch Betreuung sei ein Problem. "Sozialpädagogen können sich im Moment aussuchen, wo sie hingehen." Erzieherinnen und Erzieher seien ebenfalls schwer zu finden.

Weniger ehrenamtliches Engagement

Zudem hat das ehrenamtliche Engagement nachgelassen. Eleonore Jungmann-Ginkel übt in Lorsch seit 2015, als sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, mit ihnen Deutsch. Da seien sehr zielstrebige Menschen dabei. "Aber es gibt zu wenige, die sich um diese Zielgruppe kümmern", sagt sie.

Schimpf zählt dafür eine Reihe von Gründen auf. Als die Zahl neu ankommender Flüchtlinge nach 2016 abnahm, hätten sich weniger Menschen für das Thema interessiert. Später kam die Corona-Pandemie hinzu. Und schließlich würden die Leute älter. "Wegen der hohen Belastung sind immer weniger bereit, das auch zu machen."

"Nicht nur Obdach geben, auch Perspektiven"

Der Bürgermeister von Biblis, Volker Scheib (parteilos), betont die Wichtigkeit gelungener Integration. "Für uns ist es immer wichtig gewesen, Menschen nicht nur Obdach zu geben, sondern auch Perspektiven", sagt er. Vor zwei Jahren seien viele Ukrainer gekommen, zunächst Mütter mit ihren Kindern, später auch ganze Familien. Es seien Sprachkurse angeboten, Integrationslotsen ausgebildet worden.

Aus den letzten Jahren seien derzeit rund 110 Geflüchtete in Biblis. Hinzu kämen rund 70 aus früheren Jahren, die inzwischen aber alle privat untergebracht seien. Beim Bau der provisorischen Unterkünfte habe man gleich weitergedacht in Richtung sozialer Wohnungsbau und Integration in den Arbeitsmarkt.

Noch Kapazitäten für den Winter

"Die Akzeptanz vor Ort wird letztendlich entschieden über die Rahmenbedingungen und tatsächlich auch das Engagement und das Mitarbeiten der Geflüchteten", ist Scheib überzeugt. Auf das Erreichte schaut er mit Zufriedenheit. "Wir sind stolz drauf, dass wir große Teile in ein Arbeitsverhältnis gebracht haben." Die Stadt sieht sich da als Vorreiter.

Derzeit hat sie noch Kapazitäten. Tatsächlich hofft Scheib, dass die drei noch leerstehenden von insgesamt sechs Unterkünften bis Anfang nächsten Jahres gefüllt sind. "Die kosten jeden Monat Geld, und wir können ja nichts anderes damit machen."

Viernheim gut aufgestellt

Auch in Viernheim sieht man sich gut aufgestellt. "Wir haben über viele Jahre ein gutes Netzwerk aufgebaut, was die Integration von zugewanderten Menschen betrifft", sagt Bürgermeister Matthias Baaß (SPD). Denn es gehe ja nicht nur um Flüchtlinge. Deutschland brauche generell Zuwanderung.

"Wir müssen dann sehen, wie wir die Menschen mit ihren Potenzialen, mit ihren Talenten integrieren." Aktuell habe man in Viernheim vier neue Integrationslotsinnen übernommen. Sie dolmetschen, helfen bei kulturellen Konflikten und begleiten zu Einrichtungen. "Wir verfügen hier über ein großes Netzwerk mit über 20 vertretenen Sprachen und dem entsprechenden kulturellen Hintergrund", sagt Bürgermeister Baaß.

Seit der Zuweisung von Geflüchteten an die Kommunen habe man zudem zwei Unterkünfte neu geschaffen, eine dritte werde demnächst in Betrieb genommen und eine vierte solle bald hinzukommen. Momentan seien die Zuweisungszahlen etwas runtergegangen, aber niemand wisse, wie es in den nächsten Wochen aussehe.

Zunahme an Geflüchteten zum Ende des Jahres erwartet

Das weiß auch der Kreisbeigeordnete Schimpf nicht genau. Erfahrungsgemäß nähmen die Zahlen zum Ende des Jahres etwas zu. "Leute aus den Drittstaaten, die etwa über das Mittelmeer kommen, machen sich in den wärmeren Monaten auf den Weg." Mit einer gewissen Zeitverzögerung kämen sie dann im Herbst/Winter im Landkreis an.

Rechnen müsse man im Winter auch wieder mit mehr Menschen aus der Ukraine. "Dort ist die energetische Infrastruktur relativ platt", sagt Schimpf. "Wenn dort das Wetter deutlich schlechter wird und es kein Fortkommen in der Entwicklung der Situation gibt, kann man damit rechnen, dass noch einmal ein Schwung kommt."

"Es bleibt eine Daueraufgabe"

Eine akute Notsituation für die Kommunen im Kreis sieht Schimpf aktuell nicht. "Für 2024 passt das", sagt er. Der absehbare Bedarf sei momentan gedeckt. Er geht aber davon aus, dass spätestens zum zweiten Quartal 2025 neue Kapazitäten gebraucht werden. "Es ist und bleibt eine Daueraufgabe."

Sendung: hr4,

Quelle: Mit Informationen von Anna Vogel