Forschungsprojekt zu NS-Euthanasie Psychiatrische Zwischenanstalten: Wartestationen auf den Tod

Sie galten als "lebensunwertes Leben": Über 200.000 Menschen fielen den NS-Krankenmorden zum Opfer. Bisher weniger bekannt ist: Um das Töten möglichst effektiv zu organisieren, richteten die Nazis nicht nur Tötungsanstalten mit Gaskammern ein, sondern auch zahlreiche Zwischenanstalten. Sie waren der logistische Überbau des Mordens.

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Morde in der NS-Zeit: Tagung befasst sich mit “Zwischenanstalten“

Schwarz-weiß Bild eines Gebäudes
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Manchmal ist Wissenschaft nur schwer erträglich, aber genau dann ist sie besonders wichtig. Zum Beispiel, wenn sie auch Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch weitere, bisher wenig bekannte Kapitel aus Deutschlands dunkelster Geschichte beleuchtet.

Eins dieser Kapitel haben Forscherinnen und Forscher nun auf einer Tagung in Marburg aufgeschlagen: Die Rolle der sogenannten psychiatrische Zwischenanstalten im Rahmen der organisierten Tötungsmaschinerie an kranken Menschen der Nazis.

Aktion T4

Über 200.000 Menschen fielen den NS-Krankenmorden zum Opfer: Es waren Menschen mit psychischen Erkrankungen, Behinderungen oder sozialen Auffälligkeiten, aber auch politisch Andersdenkende, die kurzerhand für geisteskrank erklärt worden waren. Das Ziel der Nationalsozialisten: Die Vernichtung "lebensunwerten Lebens", wie sie es nannten.

Insgesamt sechs Tötungsanstalten gab es dafür in Deutschland. In Hessen befand sich eine im mittelhessischen Hadamar (Limburg-Weilburg). Die Nazis hatten dort im Rahmen der Aktion T4 extra eine Gaskammer mit Krematorium gebaut. Fast 15.000 Menschen wurden von 1941 bis 1945 in Hadamar ermordet. Zeitweise waren es bis zu 200 Menschen am Tag.

Bisher in der Öffentlichkeit weniger bekannt ist: Dieses industrielle Töten hatten einen logistischen Überbau. Sogenannte Zwischenanstalten sollten dazu dienen, das Mordprogramm geheim zu halten und es möglichst "effektiv" zu organisieren.

Der logistische Überbau des Mordens

Die Zwischenanstalten waren Zuliefereinrichtungen, in denen Patienten "auf Halde" gelegt wurden, bis zum Transport in die Tötungsanstalt. In den Zwischenanstalten verbrachten sie meist nur wenige Wochen. Vernachlässigung, Überbelegung und Zwangsarbeit waren in diesen Sammeleinrichtungen an der Tagesordnung.

Insgesamt gab es in Deutschland 20 solcher Zwischenanstalten, davon gehörten neun zu Hadamar. Vier lagen in Hessen: in Herborn (Lahn-Dill), Weilmünster (Limburg-Weilburg), Eltville (Rheinhau-Taunus) und Idsteiner (Rheingau-Taunus). Die anderen befanden sich in den angrenzenden Bundesländern.

Die Patienten kamen zum Beispiel aus psychiatrischen Einrichtungen aus der Region, etwa aus Marburg oder Nordhessen, aber auch aus Anstalten, die deutlich weiter entfernt waren.

Es war eine durchorganisierte Tötungsmaschinerie. Die grauen Busse der T4-eigenen Transportgesellschaft fuhren in Hadamar zeitweise täglich vor. Die Ankommenden wurden meist noch am gleichen Tag vergast. Der Rauch des Leichenverbrennungsprozesses war weithin zu sehen und auch zu riechen.

Patient als "unheilbar" eingestuft und ermordet

Eins der Opfer war beispielsweise der Künstler Gustav Sievers, geboren 1865 im niedersächsischen Almstedt. Sievers war schon seit 1900 fast durchgängig psychiatrisch untergebracht. Aufgefallen war er unter anderem wegen pädophiler Handlungen und weil er sozialdemokratische Schriften verbreitet hatte.

Im April 1941 wurde er in einer Anstalt in Lüneburg als "unheilbar" eingestuft und in die Zwischenanstalt in Herborn gebracht. Nach sechs Wochen transportiere man ihn mit 120 weiteren Menschen nach Hadamar. Er wurde am selben Tag in der Gaskammer ermordet.

Wartestationen auf den Tod

Die Zwischenanstalten selbst waren ebenfalls Orte des Leidens und Sterbens, erklärt Steffen Dörre, vom Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, der dort ein Forschungsprojekt zum Thema Zwischenanstalten leitet.

Dörre meint: Die Patientinnen und Patienten seien unter unmenschlichen Bedingungen "zwischengelagert" worden. Viele seien sich durchaus darüber bewusst gewesen, dass sie auf den Tod warteten. "Und selbst, wer die Befreiung 1945 erlebt hat, konnte nur traumatisiert aus dieser Zeit herauskommen", so Dörre.

Auch viele Kinder und Jugendliche waren unter den Opfern. Die Zwischenanstalt Kalmenhof in Idstein war früher sogar eine Heilerziehungsanstalt für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gewesen. Zwischen Januar und Juli 1941 wurden rund 700 Personen von und über den Kalmenhof nach Hadamar gebracht und getötet.

Wie die Zwischenanstalten der Verschleierung dienten

Die Zwischenanstalten hatten aber noch eine andere Funktion als eine logistische: Sie dienten der Verschleierung des Massenmords, erklärt Geschichtsprofessor Franz-Werner Kersting aus Münster, der den Vorsitz im wissenschaftlichen Beirat des Projekts übernommen hat.

Kersting meint: Den damaligen "Managern" des psychiatrischen Krankenmords sei bewusst gewesen, dass eine juristische und ethische Legitimation für ihr Handeln fehlte und dass man nicht vorrausetzen konnte, dass das Gros der Bevölkerung die Aktion mitttragen würde.

"Man hatte Angst vor Unruhe, die ja schließlich auch entstand", so der Professor. Nach kirchlichen Protesten im August 1941 wurde die Aktion T4 offiziell beendet. "Heute wissen wir aber, dass es diese Tötungsaktion zwar nicht mehr unter dem Namen T4 aber in einer etwas unsystematischeren, dezentralen Form weitergelaufen ist und dran auch die Zwischenanstalten beteiligt gewesen sind."

"Im Kalmenhof regiert jetzt der Tod"

Besonders ab 1941 wurden die Zwischenanstalten schließlich immer mehr selbst zu Tötungsanstalten. Das Personal ermordete Patienten mit Medikamenten oder durch gezieltes Verhungernlassen. Im Kalmenhof entstand dafür eine sogenannte "Kinderfachabteilung" im Dachgeschoss. Das Personal erhielt fünf Reichsmark als Sonderzahlung für jeden Todesfall. Die Leichenhalle lag direkt gegenüber, den Friedhof gibt es bis heute.

"Im Kalmenhof regiert jetzt der Tod", beschrieb 1942 der Idsteiner Pfarrer Boecker, Mitglied der Bekennenden Kirche, der zu den Beerdigungen auf dem Anstaltsfriedhof herangezogen wurde, die Zustände.

Einer von ihnen war Manfred Bala, geboren 1939 in ärmlichen Verhältnissen in Hamburg. Das Kleinkind war vom Hamburger Jugendamt wegen Vernachlässigung in Obhut genommen worden und war schließlich in einer Klinik gelandet. Von den Ärzten wurde Manfred als fröhliches Kind eingestuft, er sei für sein Alter aber "geistig stark unterentwickelt", wie es hieß.

1943 wurde Manfred dann aus Hamburg zum Kalmenhof gebracht. Dort wurde er noch im gleichen Jahr ermordet, im Alter von drei Jahren.

Viele Taten nie juristisch aufgearbeitet

Konsequenzen hatten die Verbrechen in den Zwischenanstalten nach Kriegsende nur wenig. In einigen Fällen kam es zu Gerichtsverhandlungen. Gegen einige der Verantwortlichen am Kalmenhof wurden 1946 hohe Strafen verhängt.

Viele Taten wurden aber nie juristisch verfolgt, oder Veranwortliche wurden freigesprochen oder begnadigt. Dörre meint: In dem Moment, in dem deutsche Stellen die juristische Aufarbeitung übernahmen und je weiter der Krieg zurücklag, desto geringer sei der Wille gewesen, die Geschehnisse aufzuarbeiten.

Neuer Fokus auf Zwischenanstalten

Das Hessisches Institut für Landesgeschichte will nun einen neuen Fokus auf die Geschichte des Leidens und Tötens in den Zwischenanstalten lenken, vor allem mit einer Studie zur Geschichte der NS-"Euthanasie" in Hessen, die einen Schwerpunkt auf die Zwischenanstalten legt.

Und auch in der Öffentlichkeit soll das Thema mehr vorkommen. Den Anfang machte die Tagung in Marburg vom 14. bis zum 15. September, zudem soll es eine Monographie und eine Online-Ausstellung zu dem Thema geben.

Quelle: Jochen Schmidt, hessenschau.de