Frankfurter Soziologin im Interview "Es müssen mehr Räume für politischen Austausch geschaffen werden"
Politisch diskutieren, seine Meinung offen sagen – nicht jeder traut sich das heute. Populismus und hitzige Debatten sorgen auch bei Menschen in Hessen für Verunsicherung. Dabei seien kontroverse Dialoge wichtig für die Demokratie und den Zusammenhalt, sagt die Frankfurter Soziologin Daniela Grunow.
Unterschiedlicher Meinung sein, aber trotzdem miteinander diskutieren können: Warum uns das auch schwer fällt und was passieren kann, wenn wir nicht dazu in der Lage sind, weiß Daniela Grunow von der Goethe-Universität Frankfurt. Die Soziologin ist Projektleiterin beim Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt und hat sich viel mit dem Thema Polarisierung in der Gesellschaft beschäftigt.
Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sei es wichtig, dass Menschen unterschiedlicher Meinung ins Gespräch kommen, sagt Grunow. Es müssten aber mehr Räume geschaffen werden, in denen Diskussionen ohne Angst vor Ablehnung geführt werden könnten, fordert sie im Gespräch mit dem hr. Dafür müsse auch mehr ins Bildungssystem investiert werden.
Das Interview führte Michaela Bergholz.
hessenschau.de: Weshalb reden wir nicht mehr miteinander?
Daniela Grunow: Wir reden schon miteinander. Wir reden nur meistens besonders offen mit den Menschen, die uns sehr nahestehen. Und die sind uns in der Regel sehr ähnlich und haben ähnliche Ansichten wie wir. Die sind deswegen natürlich auch keine Ansprechpartner, um wirklich Konflikte auszuhandeln, bei denen es zum Beispiel um politische Dinge geht.
hessenschau.de: Ist das gut oder schlecht?
Grunow: Das ist für die Demokratie nicht wirklich gut. Es wäre wirklich wichtig, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Meinungen miteinander ins Gespräch begeben und mehr verständigen.
Das ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eine negative Entwicklung, weil es wichtig ist, dass Menschen, die unterschiedliche Meinungen haben, in einer Demokratie miteinander ins Gespräch kommen und ihre Argumente auch austauschen können, ohne Angst davor zu haben, dass sie dadurch eine massive Ablehnung erfahren.
hessenschau.de: Wie ist es denn dazu gekommen, dass wir eher gespalten sind?
Grunow: Wir haben in den letzten Jahrzehnten massive soziale Wandlungstendenzen erlebt. Wir haben zum Beispiel massive Immigrationsbewegungen gehabt, wir haben einen massiven Trend zur gesellschaftlichen Gleichstellung der Geschlechter gehabt. All diese Entwicklungen, die übrigens sehr typisch sind für die sozioökonomische Entwicklung von Deutschland und auch Europa generell, führen dazu, dass Gesellschaften sozusagen insgesamt nach links rücken. Und das bildet sich auch im politischen Spektrum wieder.
Natürlich ist aber nicht jeder mit dieser Entwicklung einverstanden, auch wenn sie möglicherweise aktuell den demokratischen Konsens der meisten trifft. Wichtig ist, dass diejenigen, die Ängste haben, was diese Entwicklungen angeht, oder die vielleicht auch Erfahrungen und Argumente haben, die das Ganze in einem anderen Licht erscheinen lassen, die Gelegenheit haben, ihre Ängste und Sorgen auch zu äußern. Aber nach Regeln des gesellschaftlichen Umgangs und nach Maßgabe politischer Diskurse.
hessenschau.de: Sie stellen schon fest, dass wir zunehmend mit Gesinnungsgenossen diskutieren, oder?
Grunow: Das ist ein Trend, den man beobachten kann. Gleichwohl ist es so, dass sich die politische Landschaft in den letzten 20 Jahren schon diversifiziert hat. Es sind viele neue Parteien dazu gekommen, wie zum Beispiel Die Piraten.
hessenschau.de: Es besteht der Eindruck, dass man früher ganz anders diskutiert hat. Man konnte unterschiedlicher Meinung sein und hat bis in die Nacht diskutiert. Man ist trotzdem im Dialog geblieben. Jetzt ist das einer gewissen Sprachlosigkeit gewichen. Warum?
Grunow: Wenn man an die 70er-Jahre zurückdenkt, hatten viele Vereinstätigkeiten und Dinge, die Menschen in ihrem Privatleben getan haben, politisch konnotierte Hintergründe. Die Parteineigung hat darüber bestimmt, ob man Fußball spielt oder Tennis. Da waren weite Bereiche, in denen man unterschiedlichen Leuten begegnet ist.
Heutzutage sind zum Beispiel Freizeitaktivitäten häufig sehr ausdifferenziert, so dass sich wenige Leute zum Beispiel aus unterschiedlichen Klassenlagen oder auch unterschiedlicher Herkunft in solchen Bereichen treffen. Das ist alles ein bisschen in den Bereich des Konsums gewandert und weiter weg vom ehrenamtlichen Engagement. Das gibt es noch, und das ist nach wie vor ein wichtiger Eckstein für gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch für das Zusammenkommen unterschiedlicher Menschen. Aber es ist auch so, dass sich die Art und Weise, wie wir unsere Freizeit verbringen, verändert hat. Das Internet ist ein anderes, ganz wichtiges Stichwort hier.
hessenschau.de: Welche Rolle spielen die sozialen Medien?
Grunow: Das Internet ist eine Plattform, in der Leute nicht mit ihrer wahren Identität unterwegs sind, sondern häufig unter Pseudonym. Dort äußern sich Leute, weil sie keine Konsequenzen befürchten, viel ungehinderter, als man das Face-to-face miteinander tun würde. Das ist wirklich ein Problem, weil wir dort keine Etikette des Umgangs miteinander etablieren konnten.
hessenschau.de: Was muss getan werden, damit sich das ändert? An welchen Stellschrauben könnte man ansetzen?
Grunow: Begegnungsräume und -orte zu schaffen, auch im Internet, ist ein wichtiger Punkt. Wichtig ist, dass dafür Regeln und auch Moderation da sind. Wenn Leute nur ungehindert ihre Meinung in den öffentlichen Raum schreien, schreien andere ungehindert ihre Gegenmeinung in den öffentlichen Raum. Das ist aber noch kein Diskurs, sondern das ist genau das, was das Gefühl erzeugt, wir würden in Deutschland hochgradig polarisiert.
Wichtig ist, dass die Meinungen und die Gründe für die Meinungen ausgetauscht werden. Dafür braucht es mehr als nur die Plattform "X", sondern dafür braucht es Räume, in denen Menschen wieder in politische Diskussionen kommen, die auch moderiert werden. Und dazu braucht es auch, dass die Leute in der Schule lernen, wie man politisch miteinander umgeht und wie man unterschiedliche Meinungen so aushandelt, dass man sich nicht am Ende an die Gurgel geht oder wüst beschimpft. Ich glaube, um die Diskursfähigkeit wieder herzustellen, muss man in das Bildungssystem investieren.
Es wäre sehr wünschenswert, wenn wir mehr Räume für politischen Austausch hätten, mehr Räume, um Meinungen auszutauschen und vor allen Dingen, wenn Menschen, die das Gefühl haben, dass sie in ihren Meinungen und Erfahrungen dem "Mainstream" nicht entsprechen, keine Angst hätten, das zu äußern – und zwar auf zivilisierte Art und Weise.