Altes Hofgut in Frielendorf Warum Familien aus der Großstadt das Glück auf dem Land suchen
Mehrere Familien renovieren im nordhessischen Frielendorf ein altes Hofgut. Sie kommen aus der Großstadt - und wollen anders leben. Im Dorf kommt das gut an.
Ein altes Hofgut mitten im Dorf: Im Garten stehen Bierzeltgarnituren und bunt zusammengewürfelte Stühle, die Tische sind gedeckt, die Sonne scheint. Die Bewohner haben das ganze Dorf zu einem Willkommensfest eingeladen.
Die Gemeinschaft aus sieben Erwachsenen und vier Kindern ist neu im Dorf. Sie kommen aus ganz Deutschland und haben hier in Lenderscheid, einem Ortsteil von Frielendorf (Schwalm-Eder) ein neues Zuhause gefunden. Gemeinsam haben sie das alte Hofgut aus dem 18. Jahrhundert und die angrenzenden Gebäude gekauft. Ihr Traum: Natur, Gemeinschaft - und viel Platz für Besuch.
Vor allem Familien zieht es aufs Land
Mit dem Traum, auf dem Land zu wohnen, sind die Höfchens - wie sie sich selbst nennen - nicht alleine. Immer mehr Menschen ziehen aufs Land, wie eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung ergab. Die Hessische Landesregierung hatte die Analyse in Auftrag gegeben.
Laut Studie zieht es vor allem Familien und junge Menschen aufs Land. Gründe für die verstärkte Stadtflucht sehen die Forscher im Mangel an bezahlbaren Wohnraum. Dazu haben immer mehr Menschen die Möglichkeit, flexibel und ortsunabhängig zu arbeiten.
Abgeschlossene Wohnungen und viel Platz für Gemeinschaft
Lange haben Philipp Reifenscheid und Marcel Gluschak mit ihren Familien nach einem geeigneten Objekt gesucht. Gluschak erinnert sich an den Moment, als sie das alte Hofgut entdeckten: "Wir haben einen Jubelschrei losgelassen." Er sei sofort hingefahren, um das Haus anzuschauen.
Die Vorgaben fürs neue Zuhause: abgeschlossene Wohnungen als Rückzugsort für jede Familie, viel Platz für Gemeinschaftsräume im Haus - und ein Garten. Das passte. Gemeinsam haben sie das alte Hofgut gekauft, seit Sommer 2022 leben sie hier - und renovieren gleichzeitig. Die Eigentümerin habe sich bewusst für die beiden Familien als Käufer entschieden, so Gluschak.
Seitdem ist die Gemeinschaft größer geworden: Jonas Kowalski, Maike Glaca und ihr Sohn sind eingezogen, ebenso Imke Plamböck. Die 60-Jährige ist die Älteste und hat sich bewusst für das Leben in einer Gemeinschaft entschieden - um mit Menschen in Kontakt zu sein, zu teilen und sich gegenseitig zu helfen. Zuletzt ist Katrin Andres, Geschäftsführerin des Naturparks Knüll, dazugestoßen. Sie wird nächstes Jahr mit ihrem Sohn einziehen.
Gemeinsame Entscheidungen bei der "Höfchensrunde"
Vier Wohneinheiten sind aktuell bezogen. Jeder erwirbt einen Miteigentumsanteil, wirtschaftet jedoch für sich. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen - bei der "Höfchensrunde". Einmal pro Woche wird alles besprochen, was gerade anliegt. Das können kleinere Investitionen sein wie eine neue Leiter, aber auch die Stromrechnung, Versicherungen oder Pläne für den Garten. Denn der ist Gemeinschaftseigentum.
Anders als klassische Wohnungs-Eigentümer-Gemeinschaften versucht die Gruppe Entscheidungen zu treffen, bei denen alle Beteiligten mitgehen können. Nicht immer ist die Entscheidungsfindung leicht. Viele Menschen haben viele unterschiedliche Vorstellungen und Bedürfnisse, die nicht immer übereinstimmen. So gibt es ab und zu Mediationstreffen, damit kleinere Konflikte nicht eskalieren und große Themen möglichst gut gelöst werden.
Aktuelles Gesprächsthema: eine neue Heizung. Die Gemeinschaft möchte umweltfreundlich heizen und hat sich für eine Wärmepumpe mit Solarthermie auf dem Dach entschieden. Dazu kommt ein Pelletkessel, um die 450 Quadratmeter Wohnfläche und die alte Bausubstanz warm zu kriegen.
Die Landlust steht vor großen Herausforderungen
"Ich glaube, das ganz Rosarote ist schon vorbei", zieht Maike Gaca nach sechs Monaten Landleben Bilanz. So sei Einkaufen oder ein Medikament in der Apotheke besorgen hier deutlich komplizierter als in der Stadt. Um die Auto-Abhängigkeit auf dem Land zu umgehen, haben sich vier der Höfchens gemeinsam ein Lastenrad gekauft.
Auch wenn laut Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 94 Prozent der Bevölkerung in Hessen nahe einer Bushaltestelle mit 20 Verbindungen am Tag leben, klafft die Realität auf dem Land und in den Städten weit auseinander. In vielen ländlichen Regionen fehlt ein gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr, aber auch gute Radwege. Dies belegen Mobilitätsstatistiken.
So wurden auf dem Land 2022 nur acht Prozent der Wege mit dem öffentlichen Nahverkehr zurückgelegt - in städtischen Regionen sind es doppelt so viel (16 Prozent). Zudem legten Städter deutlich häufiger Wege mit dem Rad zurück als Bewohner ländlicher Regionen: Immerhin jeder neunte Weg wurde geradelt, auf dem Land nur jeder 33. Weg.
Ungleiche Voraussetzungen in der Stadt und auf dem Land
Das könnte sich allerdings bald ändern. Denn die Nahmobilität wird seit Jahren vorangetrieben. Für 2023 und 2024 stellt das Land den Kommunen 48 Millionen Euro für Radwege und Radschnellverbindungen zur Verfügung.
Mobilität ist allerdings nicht die einzige Herausforderung für ländliche Regionen. 138 Gemeinden mit insgesamt 860.000 Einwohnerinnen und Einwohnern zählen laut einem Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2021 als ländliche Gemeinden mit langfristigen strukturellen Herausforderungen. Frielendorf fällt auch darunter.
So sind Supermärkte, Grundschulen, Hausärzte und Kinderärzte schlechter zu erreichen. Dazu haben Pendlerinnen und Pendler lange Distanzen zum Arbeitsplatz. Dass immer mehr Familien (zurück) in den ländlichen Raum ziehen, könnte der Überalterung entgegenwirken.
Engagement auf Bau, Bühne und Blühwiesen
Die Eltern auf dem Hofgut in Lenderscheid haben erkannt, dass gemeinschaftliches Wohnen große Vorteile hat. Sie wollen sich künftig die Kinderbetreuung aufteilen und gelegentlich füreinander kochen. Dabei sehen sie ihre Gemeinschaft keinesfalls abgeschottet vom Dorf. Im Gegenteil: Sie wollen den Dorfbewohnern zuhören, sie kennenlernen und Teil der Gemeinschaft werden.
- So leitet Philipp Reifenscheid in der Montessorischule seiner Tochter eine Lehm-AG und gibt so sein Wissen an kleine Handwerker weiter. Der ehemalige Jugendbildungsreferent sieht auf dem Land mehr Möglichkeiten, sich zu engagieren und das gesellschaftliche Leben mitzugestalten.
- Marcel Gluschak setzt sich für Blühwiesen ein. Er sitzt für die Jugendarbeit bei der Organsation World Wide Fund For Nature (WWF) viel vor dem Computer. Umso mehr freue er sich, bei einem Naturschutzeinsatz in der Nähe von Lenderscheid helfen zu können – und die Wiese insektenfreundlich zu machen.
- Maike Gaca und ihr Partner haben die Kinder aus der örtlichen Kita eingeladen. Die beiden Puppenspieler haben ein Theaterstück geschrieben.
Die Höfchens bringen Leben auf den Hof - und ins Dorf
Die Kita ist dankbar für das Engagement. So wie auch Frielendorfs Bürgermeister Jens Nöll (SPD), den "die Neuen" eingeladen haben. Beim Ortstermin zeigte sich der Politiker beeindruckt. Er freue sich sehr, dass die Zuzügler das alte Hofgut erhalten wollen und zugleich damit neuen Wohnraum im Ortskern schafften.
Das Dorf ist durch das Projekt gewachsen - und es sollen noch weitere Menschen dazukommen. Dass die neuen Nachbarn und Nachbarinnen im Dorf willkommen sind, zeigt eine Spendenkasse, die Dorfbewohner beim Willkommensfest für sie haben rumgehen lassen. "Ich freue mich vor allem darüber, dass die jungen Leute sich sofort geöffnet und uns eingeladen haben", erzählt ein Nachbar.
Was aus dem Hofgut werden soll, das zeigen die "Höfchens" ihren Besucherinnen und Besuchern beim Willkommensfest gern. Sie bringen frischen Wind ins Dorf – und zeigen gleichzeitig, wie Integration erfolgreich gelingen kann.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 13.09.2023, 16.45 Uhr
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