Fünf Jahre nach Mord an Regierungspräsident Walter Lübckes Werte leben an Schule in Wolfhagen weiter
Vor fünf Jahren wurde der Kasseler Regierungspräsident von einem Rechtsextremen erschossen. Eine Schule in Lübckes Heimatort will seine demokratischen Werte wahren - und versteht den Rechtsruck unter Jugendlichen als Ansporn.
Walter Lübcke starb, weil er sich für demokratische Werte eingesetzt hatte. "Und für Leute wie mich", sagt Sena Karahan. Fünf Jahre ist das her: Lübcke wurde am 2. Juni 2019 von dem Rechtsradikalen Stephan Ernst auf der Terrasse seines Hauses im Wolfhager Ortsteil Istha (Kassel) erschossen. Sein Tod hat vieles verändert. Auch bei Sena.
Die Schülerin der Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen hat selbst eine Migrationsgeschichte. Die Nachricht vom Tod des CDU-Politikers schockierte die damals 13-Jährige und ihre Familie. "Weil es so nah war", sagt sie, "und weil jemand, der sich für Menschen wie uns eingesetzt hat, dafür gestorben ist." Der Tatort liegt nur wenige Kilometer Luftlinie von ihrer Schule entfernt.
Schule beteiligt sich an Gedenkveranstaltung
Gerade bereiten sich die Schülerinnen und Schüler auf die Gedenkveranstaltung für Walter Lübcke in der Kasseler Martinskirche am Sonntag vor. Hierfür haben sie ein großes Plakat unter der Überschrift "Demokratie leben" gestaltet. Es zeigt, was in der Schule für die Werte Lübckes getan wird: Lernen durch Engagement, beispielsweise bei Mahnwachen und Demonstrationen, aber auch der Einsatz für Mitmenschen wie Geflüchtete.
Die Initiative "Offen für Vielfalt" hat die Erinnerungsveranstaltung organisiert. Nach der Gedenkfeier, bei der auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprechen wird, soll es ein großes Demokratiefest geben.
Schule beteiligt sich an Gedenkveranstaltung
Lübcke habe "sein Eintreten für freiheitliche Werte buchstäblich mit dem Leben bezahlt", sagt Dagmar Krauße von der Initiative. Man wolle mit der Gedenkfeier mahnen und aufzeigen, dass "unsere Demokratie Schutz und Beteiligung braucht".
Die Walter-Lübcke-Schule beteiligt sich mit mehreren Aktionen an der Feier. Am Sonntag werde ein "kleiner Querschnitt durch die Schulgemeinde" vor Ort sein, sagt Schulleiter Ludger Brinkmann: Schülerinnen und Schüler aus den Deutsch-Leistungskursen, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern.
Bei der Gedenkfeier in der Martinskirche werden Jugendliche Texte vortragen, die sie in einem Poetry-Slam-Workshop erarbeitet haben. Unter dem Motto "Setz dich, wir müssen reden" wollen sie auf dem Demokratiefest im Anschluss mit Besucherinnen und Besuchern ins Gespräch kommen und zeigen, wie man heute in der Schule Demokratie lernen kann.
Impuls zur Umbenennung aus der Schülerschaft
Seit 2020 trägt die ehemalige Wilhelm-Filchner-Schule Lübckes Namen. Die Umbenennung sei lange geplant gewesen, erinnert sich Schulleiter Brinkmann. Bereits seit 2010 habe man nach einem neuen Namen gesucht. Der Impuls, die kooperative Gesamtschule nach Walter Lübcke zu benennen, sei nach seinem Tod aus der Schülerschaft gekommen.
Die Schülervertretung habe im November 2019 einen Antrag gestellt, um "bewusst ein politisches Statement gegen Extremismus, Rassismus und Gewalt zu setzen", heißt es in der Schulchronik. Es folgten zahlreiche Info-Veranstaltungen und Diskussionsrunden.
Im Februar 2020 wurde die Umbenennung von der Schulkonferenz beschlossen, im Juni stimmte der Kreistag zu - einstimmig. Man habe eine überwältigende Zustimmung nicht nur im Wolfhager Land, sondern aus der gesamten Republik bekommen, sagt Schulleiter Brinkmann.
Neuer Name "zu politisch"?
Die Entscheidung habe man sich nicht leicht gemacht, vor allem aus Rücksicht auf die Angehörigen: Lübckes Kinder seien hier zur Schule gegangen, die Schwiegertochter gehöre zum Kollegium, sagt Brinkmann. Man habe die Familie eng in den Prozess mit eingebunden. Diese habe sich dann zur Umbenennung bereit erklärt.
Es habe aber vor allem seitens der Eltern Befürchtungen gegeben, dass die Wahl des Namens zu politisch sein könnte, erinnert sich der Schulleiter. Auch weil der Mord an Lübcke damals erst einige Monate zurücklag. Die Schule und einzelne Mitglieder der Schulgemeinde seien nach der Umbenennung mehrfach bedroht worden.
Lübckes Werte im Unterricht
Im Leitbild der Schule ist weltoffenes und menschenfreundliches Denken und Handeln fest verankert. Die Schule hat sich verpflichtet, Demokratie und Vielfalt zu leben und erlebbar zu machen.
Das zeigt sich auch im Schulalltag. Insgesamt 1.380 Schülerinnen und Schüler aus 31 Nationen werden hier unterrichtet, zum Teil in Intensivklassen für Geflüchtete. Dennoch gebe es erstaunlich wenige Konflikte, sagt Brinkmann. Die Schule lege großen Wert darauf, dass Schülerinnen und Schüler mitreden können: in der Schülervertretung und im Klassenrat. Probleme, die in den Klassen auftreten, würden in der Gemeinschaft bewältigt.
Um die persönlichen und sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu stärken, setzt die Schule auf das "Lions Quest"-Programm des bekannten Bildungswissenschaftlers Klaus Hurrelmann. Neben persönlichen Kompetenzen vermittelt es in den Jahrgängen fünf bis sieben Demokratieverständnis und interkulturelle Kompetenz. Durch das Programm sollen Schülerinnen und Schüler zu einem Klassenteam zusammenwachsen und Konflikte gemeinsam lösen. Sie werden dabei von ihren Lehrkräften unterstützt.
Schule als "Spiegel der Gesellschaft"
"Wir sind eine Schule, die sich entschlossen hat, demokratische Werte auszuleben", erklärt Schulsprecher Felix Wagner. Dass das nicht immer funktioniere, sei selbstverständlich, "aber wir tun unser Bestes".
Dennoch: Die Angriffe auf Politiker und Parteimitglieder, fremdenfeindliche Parolen in Diskos und auf Volksfesten beobachtet auch Schulleiter Brinkmann mit Sorge. Seine Schule sei "ein Spiegel der Gesellschaft" und könne nicht anders sein als die Gesellschaft, die sie umgebe. Auch in Wolfhagen lebten Menschen, die die AfD wählen, sagt er.
Bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr holte die Partei in der Kleinstadt mit 1.279 Stimmen sogar 20,5 Prozent der Stimmen - 6,4 Prozentpunkte mehr als noch 2018. Die Zustimmung für die AfD lag in Wolfhagen über dem Landesergebnis.
"Die da oben" und "wir hier unten"
So gebe es auch in Wolfhagen Jugendliche, die rechtsradikalen Ideen gegenüber aufgeschlossen seien und entsprechende Aufkleber an Laternen klebten, sagt Brinkmann. Für seine Schule müsse dies "eben auch Ansporn sein, darauf zu reagieren" und mit den Betroffenen in den Austausch zu gehen - teilweise mit externer Unterstützung. Man stelle Fragen wie: "Was macht ihr da eigentlich und welchen Ideen hängt ihr nach?"
Die Gründe für den Rechtsruck sieht Schulleiter Brinkmann auch darin, dass vielfach nicht mehr wahrzunehmen sei, wie Demokratie tatsächlich funktioniere. Dazu komme zunehmend das Gefühl auf, "dass auf die da oben wir hier unten gar keinen Einfluss haben". Ändern könne man solche Gedanken nur, indem man Jugendliche beteilige, ist Brinkmann überzeugt.
Aktueller Rechtsruck durch "Reiz des Verbotenen"?
Auch Schulsprecher Felix Wagner macht sich Sorgen über den Rechtsruck bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Vor allem, weil dies seiner Meinung nach weniger aus politischer Überzeugung geschehe, sondern vielmehr, "weil man das amüsant findet und sich der Tragweite des Ganzen gar nicht so richtig bewusst ist". Bei dem ein oder anderen spiele sicher auch der Reiz des Verbotenen und des gesellschaftlich Verpönten eine Rolle, glaubt der 18-Jährige.
Sena hat nach dem Mord entschieden, in der Schülervertretung aktiv zu werden - auch, weil diese sich dafür eingesetzt hatte, den Namen in Walter-Lübcke-Schule zu ändern. Heute ist sie stellvertretende Schulsprecherin.
Es bedeute ihr sehr viel, dass die Schulgemeinde immer wieder betone, wie wichtig es sei, alle Religionen und Herkunftsländer zu schätzen, sagt Sena. Es sei ihr wichtig, dass die Schule mit dem Namen Lübckes dessen Werte lebe.
Sendung: hr4, 31.05.2024, 11.40 Uhr
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