Hamas-Massaker in Israel vom 7. Oktober "Die Lehrkräfte wissen nicht, wie sie mit dem Jahrestag umgehen sollen"
Vor einem Jahr tötete die Terrormiliz Hamas bei ihrem Überfall auf Israel mehr als 1.100 Menschen. Heute sei es für Lehrkräfte immer noch eine Herausforderung, das Massaker und seine Folgen im Unterricht zu thematisieren, sagt die Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank im Interview.
Am 7. Oktober 2023 gingen die Bilder des grausamen Massakers der Hamas an Israelis um die Welt. Ein Jahr später beherrschen die Situation im Gaza-Streifen und die militärische Eskalation im Libanon die Schlagzeilen.
Wie kann insbesondere in Schulen des Massakers gedacht werden? Und wie sollen Lehrkräfte damit umgehen, wenn antisemitische Desinformationen aus den sozialen Netzwerken den Weg in den Klassenraum finden? Darüber sprachen wir mit Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt.
hessenschau.de: Frau Schnabel, nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 war weltweit das Entsetzen groß – und gleichzeitig die Überforderung. Auch aus Schulen und anderen Bildungsinstitutionen hieß es immer wieder, man wisse nicht, wie man das Geschehen behandeln soll. Die Bildungsstätte Anne Frank dürfte das zu spüren bekommen haben...
Deborah Schnabel: Das haben wir in jedem Fall zu spüren bekommen. Wir haben ja schon vor dem 7. Oktober sehr eng mit Lehrkräften zusammengearbeitet, und verschiedene Angebote im Themenfeld "Antisemitismus" und auch speziell zu "israelbezogenem Antisemitismus" gemacht. Trotzdem war nach dem 7. Oktober die Ratlosigkeit bei vielen Lehrkräften groß. Wir hatten in wenigen Tagen tatsächlich über 100 Anfragen und haben dann mit einem Ad-Hoc-Angebot reagiert.
hessenschau.de: Wie sah dieses Angebot aus?
Schnabel: Das war ein Online-Format, bei dem die Frage im Mittelpunkt stand: Wie öffne ich pädagogische Räume, um über den 7. Oktober und die Folgen mit den Schülerinnen und Schülern sprechen zu können?
hessenschau.de: Es waren aber nicht nur Schulen, die sich ratsuchend an Sie gewandt haben, oder?
Schnabel: Die Schulen haben sehr unmittelbar reagiert. Aber Beratungsbedarf gab es auch in anderen Bereichen, zum Beispiel in Kulturinstitutionen. Natürlich spielt auch der digitale Raum eine große Rolle, der die Diskurse nach dem 7. Oktober sehr stark beeinflusst. Vor allem durch jugendrelevante Plattformen wie TikTok. Viele Narrative, die dort aufkommen, werden in analoge Diskurs- oder Bildungsräume getragen.
hessenschau.de: Ein Jahr später stellt sich vor allem für Schulen wieder die Frage, wie sie mit dem Jahrestag dieses Massakers umgehen sollen.
Schnabel: Wir haben tatsächlich von vielen Lehrkräften und Schulen die Rückmeldung erhalten, dass sie sich nicht sicher sind, wie sie mit dem Jahrestag des Massakers umgehen sollen. Schon allein deshalb, weil sich in diesen zwölf Monaten sehr viel getan hat – etwa im Hinblick auf die Kriegsschauplätze. Wir wollten das quantifizieren, damit wir auch konkrete Forderungen stellen und entsprechende Angebote entwickeln können. Deshalb haben wir eine Umfrage unter Lehrkräften durchgeführt.
hessenschau.de: Was sind Erkenntnisse aus dieser Erhebung?
Schnabel: Es hat sich gezeigt, dass gerade an Schulen bis heute eine intuitive Form des Erinnerns an den 7.Oktober fehlt.
Es war sichtbar, dass der 7. Oktober hier in Deutschland nicht die gleichen Reaktionen ausgelöst hat wie andere terroristische Anschläge in den letzten Jahren. Zitat von Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte Anne FrankZitat Ende
hessenschau.de: Ich glaube, den Begriff müssen Sie uns erläutern.
Schnabel: Es war sichtbar, dass der 7. Oktober hier in Deutschland nicht die gleichen Reaktionen ausgelöst hat wie andere terroristische Anschläge in den letzten Jahren. Die wurden sofort im Klassenkontext thematisiert. Es gab Gedenkstunden, Schweigeminuten, spezielle Gesprächsangebote im Klassenraum. Alles sehr unmittelbar. Zudem eine weitflächige Solidarisierung und Empathie in der Breite der Gesellschaft – nicht nur von politischen Entscheidungsträgern.
hessenschau.de: Haben Sie eine Idee, woher diese Zurückhaltung kommt?
Schnabel: In unserer Umfrage gaben 56 Prozent der befragten Lehrkräfte an, dass sie den 7. Oktober und die Folgen nicht thematisiert haben oder thematisieren werden. Gleichzeitig begründen sie das nicht damit, dass das Thema keine Relevanz hätte, sondern dass entweder nicht genügend zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen oder ihnen nicht klar ist, wie sie das Thema behandeln können.
hessenschau.de: Hat es möglicherweise auch etwas damit zu tun, was sie von den Schülerinnen und Schülern zu hören bekommen?
Schnabel: Wir haben hier das Problem, auf das wir schon seit Jahren aufmerksam machen: Junge Menschen informieren sich vorwiegend in den sozialen Medien oder auch im Peer-Umfeld (unter Gleichaltrigen, Anm. d. Red.) über aktuelle Geschehnisse wie den 7. Oktober oder den anhaltenden Krieg in Gaza. Wir wissen aber, dass in den sozialen Medien Verschwörungserzählungen und Desinformation eine enorm große Rolle spielen. Und da ist eben auch sehr, sehr viel israelbezogener Antisemitismus und Israel-Hass dabei.
hessenschau.de: Was können Sie als Bildungsstätte den Lehrkräften da raten?
Schnabel: Lehrkräfte sind wirklich in einer sehr herausfordernden Situation und dürfen dabei nicht alleine gelassen werden. Das möchte ich nochmal betonen: Es darf nicht von den einzelnen Lehrkräften abhängen, ob Räume für Diskussionen geschaffen oder Materialien zu der Thematik entwickelt werden. Es ist mehr denn je relevant, aktuelle Themen auch im Klassenkontext aufzugreifen.
Dafür braucht es aber strukturelle Veränderungen im Bildungssystem, die es Lehrkräften zeitlich überhaupt ermöglichen, sich aktueller gesellschaftspolitischer Themen und globaler Konflikte anzunehmen. Lehrkräfte müssen befähigt werden, pädagogische Räume zu öffnen, ohne vielleicht auch selbst alle Antworten zu einem Thema wie dem Israel-Palästina-Konflikt zu haben. Denn es nicht zu thematisieren, macht das Ganze auch nicht besser.
Auch wenn es schon ein bisschen abgegriffen ist: Es braucht eine bessere Medienbildung. Zitat von Deborah Schnabel, Leiterin der Bildungsstätte Anne FrankZitat Ende
hessenschau.de: Den Raum letztlich öffnen muss aber die einzelne Lehrkraft. Wie kann das konkret aussehen?
Schnabel: Eine Stunde oder einen Teil einer Schulstunde dafür vorzusehen, ist schon mal sehr, sehr gut. Es braucht aber auch eine kontinuierliche Beschäftigung mit aktuellen, gesellschaftspolitischen Themen im Klassenkontext neben dem Lehrplan. Zusätzlich, auch wenn es schon ein bisschen abgegriffen ist: Es braucht eine bessere Medienbildung. Lehrkräfte und Schulen sollten sich dafür einsetzen, dass das institutionalisiert wird – und nicht eben nur ein "nice to have" ist.