Vier Jahre nach dem Anschlag von Hanau Autor Hashemi: "Das sind Narben, die auch die Gesellschaft trägt"
Vier Jahre sind seit dem rassistischen Anschlag von Hanau vergangen. Said Etris Hashemi hat am 19. Februar 2020 schwer verletzt überlebt. In seinem Buch "Der Tag, an dem ich sterben sollte" berichtet der 27-Jährige über das traumatische Erlebnis.
Said Etris Hashemi hat die Augen geschlossen. Er ist oberkörperfrei und hebt seinen Kopf leicht nach oben. So sind sie gut zu erkennen: seine Narben. Er trägt sie an der rechten Schulter, am Hals, im Mund. "Es gibt noch einige Narben, die man nicht sieht", erklärt Hashemi. "Aber ich spüre sie."
Zumindest seine sichtbaren Narben zeigt der 27-Jährige auf dem Cover seines Buchs. "Dieses Bild beschreibt einfach alles, was passiert ist", meint er. "Der Tag, an dem ich sterben sollte", heißt sein Buch. Auch das beschreibt Hashemis Erlebnisse gut.
Hashemi wurde angeschossen
Am 19. Februar 2020 hatte ein 43-jähriger Deutscher in Hanau neun junge Menschen aus rassistischen Motiven erschossen. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Die Opfer: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov.
Said Etris Hashemi wurde beim Anschlag angeschossen. Seine Narben stammen von der Einschusswunde oder vom Luftröhrenschnitt. 17 Stunden lang steckte eine Pistolenkugel in Hashemis Mund. Er überlebte schwer verletzt. Sein Bruder Said Nesar und gemeinsame Freunde starben.
Hashemi engagiert sich politisch
Der Anschlag von Hanau hat sein Leben für immer verändert, erklärt Said Etris Hashemi. In den ersten Monaten nach dem Anschlag versuchte er, abzutauchen, mied die Öffentlichkeit, wollte nicht erkannt werden.
Als Hinterbliebene wie Hashemi gut ein Jahr nach dem Anschlag immer noch viele offene Fragen rund um den Anschlag sahen, entschied er sich um. "Ich hatte das Gefühl, dass die Aufklärung nicht so läuft, wie wir uns das erhofft hatten", erinnert er sich.
Seitdem bringt er sich ein. Zunächst ging es den Hinterbliebenen um einen Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag, mittlerweile engagiert sich Hashemi auch politisch, setzt sich zum Beispiel für eine Reform des Opferentschädigungsgesetzes ein. "Da bekommst du das geballte Monstrum deutscher Bürokratie zu spüren", sagt er.
Opfer stehen vor Existenzproblemen
Für trauernde und traumatisierte Hinterbliebene sei das zu kompliziert und belastend. Dabei sei es doch so wichtig, findet Hashemi: Viele Opfer extremistischer Gewalttaten stünden vor Existenzproblemen.
Said Etris Hashemi ist deshalb regelmäßig in Berlin, tauscht sich mit Politikerinnen und Politikern aus, wirbt für seine Ansichten. "Das braucht einen langen Atem." All diese Erfahrungen hat er zu Papier gebracht, Anfang des Monats ist sein Buch erschienen. Seitdem geht er auf Lesungen und gibt zahlreiche Interviews – gerade jetzt, wo die Aufmerksamkeit rund um den Jahrestag des Anschlags ohnehin groß ist.
Anstrengend sei es, das Erlebte immer und immer wieder zu erzählen und zu durchleben. "Das sind die Herausforderungen, mit denen ich jetzt eben leben muss", sagt Hashemi. Genau, wie mit den Narben. "Diese Narben erzählen eine Geschichte – und das ist meine. Ich habe aber auch gemerkt: Die Narben, die ich trage, sind Narben, die auch die Gesellschaft trägt."
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 17.02.2024, 19.30 Uhr
Redaktion: Susanne Mayer