Patientenversorgung im Ernstfall Hessens Ärzte fordern Nachbesserung beim Triage-Gesetz
Im neuen Triage-Gesetz ist geregelt, welche Patienten im Fall von Versorgungsengpässen bei einer Pandemie zuerst behandelt werden - und welche möglicherweise gar nicht. Um die Einigung wurde im Bund lange gerungen. Trotzdem sind in Hessen viele Ärzte nicht damit einverstanden.
Es ist der Fall, von dem wohl jeder Arzt und jede Ärztin hofft, dass er nie eintreten wird: Ein so großer Engpass, dass es nicht genug Personal, Betten oder Geräte gibt, um alle Patienten zu behandeln. Wer in diesem Fall vorzuziehen ist und wer erst danach an die Reihe kommen darf, ist in einem neuen Triage-Gesetz für Pandemien vorgeschrieben. Es wurde vor etwa anderthalb Wochen vom Bundestag beschlossen, als Ergänzung zum Infektionsschutzgesetz.
In Hessen lösen die Vorgaben bislang wenig Begeisterung aus. "Völlig überflüssig" nennt Stephan Sahm, Medizinethiker und Chefarzt am Offenbacher Ketteler-Krankenhaus, das Triage-Gesetz sogar. Auch die Landesärztekammer reagiert mit "Unverständnis" und hofft auf Nachbesserungen.
Was steht im neuen Triage-Gesetz?
Gibt es etwa zu wenige Betten oder Beatmungsgeräte auf den Intensivstationen, müssen die Ärztinnen und Ärzte eine Reihenfolge für die Behandlung festlegen. Diese richtet sich nach dem Gesetz maßgeblich nach der "aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit" eines Patienten. Andere Kriterien wie das Alter oder eine Behinderung dürfen keine Rolle spielen.
Auch eine Benachteiligung wegen Geschlecht oder Herkunft wird im Gesetz ausdrücklich untersagt. Ausgeschlossen wird zudem eine sogenannte Ex-Post-Triage, bei der die Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen abgebrochen würde.
Warum wurde das neue Gesetz überhaupt beschlossen?
In der Corona-Pandemie rückte das Thema Triage wegen voller Intensivstationen in den Fokus. Anlass für das Gesetz war eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Dezember 2021. Geklagt hatten Behindertenverbände. Das Gericht entschied damals, dass Menschen mit Behinderung besser geschützt werden müssen, da Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen in der Corona-Pandemie besonders gefährdet seien und die Gefahr bestehe, dass sie im Fall einer Triage nicht behandelt werden.
Bisher gab es kein Gesetz zur Triage, sondern wissenschaftlich erarbeitete Empfehlungen für die Ärztinnen und Ärzte. Da jedoch mit mehr Pandemien und Infektionskrankheiten zu rechnen sei, sagte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), müsse man besser vorbereitet sein.
Was wird von den hessischen Ärzten kritisiert?
Aus Sicht der Landesärztekammer droht mit dem Gesetz eine "Überreglementierung". Es erscheine "in Situationen, in denen schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, kaum umsetzbar", sagte Präsident Edgar Pinkowski. Unter Umständen müssten bis zu drei Ärzte für die Entscheidung hinzugezogen werden. "Die Sorge vor möglichen strafrechtlichen Folgen wird die ärztliche Entscheidung zusätzlich erschweren." Zudem dürfe der Wille der Patienten nun nicht mehr berücksichtigt werden.
Der Offenbacher Medizinethiker und Chefarzt Stephan Sahm hält das Triage-Gesetz in der Praxis für nicht nötig. Auf Nicht-Intensivstationen würden seit jeher "schmerzliche, aber nötige Entscheidungen" getroffen, sagt er. "Die Ärzteschaft geht verantwortungsvoll damit um, ohne dass der Verdacht bestünde, dass dabei bestimmte Personengruppen benachteiligt werden."
Die Landesärztekammer kritisiert außerdem das enthaltene Verbot der sogenannten Ex-Post-Triage. Dieses schreibt vor: Bei wem die Behandlung einmal begonnen wurde, der wird auch weiter behandelt - selbst wenn ein neuer Patient vielleicht bessere Überlebenschancen hätte. "Das gefährdet Menschenleben", so Pinkowski.
Wenn die Chancen zu überleben anfangs gut waren, sich danach aber "marginalisiert" haben, müsse man die Behandlung beenden, meint auch Chefarzt Sahm. Leitkriterium müsse dabei sein: Wie groß sind die Chancen, dass dieser Mensch die Klinik jemals aufrecht verlässt? "Wenn es um Zuteilungen medizinischer Ressourcen geht, sind alle Patienten gleich."
Was sind weitere Kritikpunkte?
Auch die Behindertenverbände haben das Gesetz kritisiert. Ihnen geht es nicht weit genug, sie befürchten, dass Menschen mit Behinderung weiterhin benachteiligt sind. Der niedersächsische Landtagsabgeordnete Constantin Grosch (SPD), Sprecher der Behindertenbewegung "Ability Watch", sagte, Menschen mit Behinderungen hätten oftmals Begleiterscheinungen, die ihre Überlebenswahrscheinlichkeit geringer ausfallen lasse. Daher gehe es nicht weit genug, wenn Ärzte sich lediglich "auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit" berufen dürfen.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) sieht das Gesetz ebenfalls kritisch. Das Kriterium der "Überlebenswahrscheinlichkeit" sei ein Einfallstor dafür, dass in der Praxis unbewusste Vorurteile und Stereotype zu Lasten alter Menschen und von Menschen mit Behinderung ungewollt in die Prognoseentscheidung einflössen, wird ein Sprecher auf tagesschau.de zitiert.
Gibt es auch Zustimmung?
Ja, Lob kam etwa aus der Katholischen Kirche. So sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, der Gesetzgeber habe "völlig zu Recht besonderen Wert darauf gelegt, bei der notwendigen Auswahlentscheidung jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung, Gebrechlichkeit, Alter, ethnischer Herkunft, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung strikt zu vermeiden".
Auch das Verbot der Ex-Post-Triage, also eine Behandlung zugunsten eines anderen Patienten abzubrechen, sei eine "richtige und wichtige Weichenstellung", urteilte der Limburger Bischof.
Wie geht es jetzt weiter?
Das Gesetz muss noch durch den Bundesrat. Es ist aber nicht zustimmungspflichtig. Das bedeutet, falls der Bundesrat mit dem Gesetz nicht einverstanden ist, darf er lediglich Einspruch einlegen, welcher wiederum vom Bundestag überstimmt werden kann.