50 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie in Riedstadt "Wir verwalten leider immer den Mangel"
Depressionen, Ängste, Essstörungen: Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen haben seit der Corona-Pandemie zugenommen. Gleichzeitig klagen Kliniken über fehlende Fachkräfte und lange Wartelisten. Ein Besuch in Hessens größter Kinder- und Jugendpsychiatrie zeigt aber auch Lösungsansätze.
Die Gänge sind hell, an den Wänden hängen bunt gestaltete Plakate und auf dem Tisch im Gemeinschaftsraum stehen frische Blumen. Es ist ruhig auf der Station 5 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Riedstadt (Groß-Gerau). In einem der Zweierzimmer steht ein kleiner Schminkspiegel vor dem Bett, auf den Regalen sind Habseligkeiten verteilt und den Boden ziert ein weißer Teppich in Herzform.
Die Jugendlichen auf dieser Station sind emotional instabil. Sie haben eine Emotionsregulationsstörung, erklärt Stationsleiterin Natasa Dinic. Die meisten bleiben zwischen 14 und 16 Wochen. Dabei sind die elf Betten auf Station 5 fast immer voll. "Es ist schwierig, bei uns Plätze zu bekommen", erklärt Dinic.
Patienten kommen aus vier Landkreisen
Insgesamt 105 Plätze auf sieben Stationen hat die Vitos Kinder- und Jugendpsychiatrie in Riedstadt, dazu kommen Plätze in den Außenstellen in Heppenheim (Bergstraße) und Höchst (Odenwald).
Die Klinik, die in diesen Tagen ihr 50-jähriges Bestehen gefeiert hat, ist Anlaufstelle für vier südhessische Landkreise und die größte Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hessen. Als solche hat sie auch 20 Plätze für die sogenannte Adoleszenz-Station reserviert, die jungen Erwachsenen zwischen 16 und 24 Jahren den Umstieg zur Erwachsenenpsychiatrie erleichtern soll.
Mehr Depressionen, Ängste und Essstörungen
Der Bedarf an Plätzen steigt, sagt die ärztliche Direktorin Annette Duve. "Wir sehen einen Anstieg bei Depressionen, Ängsten und Essstörungen von bis zu 30 Prozent in der Welle nach Corona." Dazu kämen gesellschaftliche Probleme, Klimawandel oder Kriege, denen die Kinder und Jugendliche durch die stete Informationsflut stark ausgesetzt seien.
Das mache sich auch in der Psychiatrie bemerkbar, so Duve: "Wir haben viele Kinder und Jugendliche mit Selbstwertproblemen, die unter der Belastung in Depressionen rutschen und zum Teil auch suizidale Gedanken haben."
Zwei bis vier Monate Wartezeit
Doch gerade angesichts des höheren Bedarfs und teils auch schwerwiegenderer Erkrankungen als noch vor der Corona-Pandemie gibt es laut Annette Duve zu wenige Therapeuten für Kinder und Jugendliche. Auch die Fachberatungsstellen seien überlaufen. Vitos-Geschäftsführer Jochen Schütz bedauert, dass die Fachrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der medizinischen Ausbildung nach wie vor eine untergeordnete Rolle spiele.
Vitos mit seinen 115 Einrichtungen und 12.000 Mitarbeitern in Hessen erwartet außerdem in den kommenden Jahren eine Verschärfung des Fachkräftemangels, wenn Mitarbeiter aus den geburtenstarken Jahrgängen in Rente gehen.
"Wir verwalten leider immer ein Stück den Mangel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie", so Annette Duve. "Wir müssen immer gewichten: Wer braucht direkt einen Platz, wo können wir erst einmal ambulant versorgen?" Durchschnittlich brauche es zwei bis vier Monate Wartezeit für eine stationäre Aufnahme.
"Home-Treatment" für jugendliche Patienten
Angesichts der aktuellen Herausforderungen helfen aber auch mehrere Modellprojekte, die es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Riedstadt gibt, sagt Annette Duve. So nimmt die Klinik seit 2016 an einem Projekt teil, bei dem es um eine bessere Verzahnung zwischen vollstationärer, tagesklinischer und ambulanter Therapieform gehe.
"Wenn sich ein Patient mit Essstörung stabilisiert, kann er in den Tagesklinikstatus wechseln", erklärt die Ärztliche Leiterin. "Klappt das doch nicht so gut, kann er auch wieder vollstationär kommen."
Die Projektphase sei bereits verlängert worden und soll ab 2030 auch fest etabliert werden. Außerdem gebe es inzwischen auch "Home-Treatment" für jugendliche Patienten, die zuhause behandelt werden könnten. Dabei habe die schwierige Situation auch manche Innovation befördert, so Annette Duve: "Die Berufsgruppen arbeiten inzwischen auch übergreifend stärker zusammen als früher."
Starker Wandel über die Jahrzehnte
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat in den vergangenen Jahrzehnten einen starken Wandel durchlaufen. Nach der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Idstein (Rheingau-Taunus) und den Kliniken in Marburg und Eltville (Rheingau-Taunus) war die Klinik in Riedstadt bei ihrer Gründung 1975 eine der ersten psychiatrischen Fachkliniken für junge Menschen in Hessen.
Was mit ursprünglich 24 Patienten als Pflegestation für geistig behinderte Kinder begann, ist inzwischen eine stattliche Einrichtung mit mehreren Gebäuden, einem Stall für die Tiere der tiergestützten Therapie, einer Schule und Sportgeräten auf dem weitläufigen Gelände.
Themen wie Künstliche Intelligenz und digitale Portale für psychische Gesundheit seien längst auch hier angekommen. "Als Kinderpsychiaterin muss ich am Puls der Zeit bleiben, auch wenn ich selbst als Mensch älter werde", erklärt Annette Duve. "Das führt dazu, dass wir innovativ sind, wenn es darum geht, neue Konzepte umzusetzen."