Hessische Hilfsprojekte Suiziden vorzubeugen fängt damit an, Warnsignale zu erkennen
Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen. Trotzdem wird über das Thema zu wenig geredet. Mehrere Projekte in Hessen wollen aufklären und Kinder und Heranwachsende schützen.
Als Alix und Oliver Puhl aus Frankfurt eines Tages nach Hause kommen, ist ihr 16-jähriger Sohn verschwunden. Sie finden einen Abschiedsbrief, eine riesige Suchaktion beginnt. Über 400 freiwillige Helfende durchkämmen die Gegend. Nach einer Woche Suche die traurige Gewissheit: Ihr Sohn Emil hat sich das Leben genommen.
Leider bei weitem kein Einzelfall. Suizid ist nach Angaben des Statistischen Bundesamts bei 15- bis 19-Jährigen die zweithäufigste Todesursache. 172 von ihnen nahmen sich 2022 das Leben. Auch Kinder sind betroffen: 2022 starben deutschlandweit 20 Kinder unter 15 aufgrund von Suizid.
In fast allen Fällen gehe dem Suizid von Kindern und Jugendlichen eine psychische Störung voraus, sagt Frank Zimmermann, Experte für Suizidprävention bei Kindern und Jugendlichen. Die Erkrankung werde häufig nicht schnell genug erkannt und behandelt. Dazu spiele eine Besonderheit bei Jugendlichen eine Rolle: ihre erhöhte Impulsivität. Gerade deswegen, mahnt Zimmermann, sei es noch wichtiger, Warnsignale rechtzeitig zu erkennen.
"Unfassbar, aber es hat keiner gesehen"
Der Sohn von Familie Puhl passt in dieses Raster, auch er hatte eine psychische Störung. Sie blieb lange unerkannt. Erst kurz vor seinem Tod erhielt die Familie die Diagnose: Autismus-Spektrum-Störung, gemischt mit einer schweren Depression.
In Emils Fall äußerte sich sein Autismus derart, dass Symptome seiner Depression schwerer erkennbar waren. Alix Puhl sieht es heute so: "Emil war im Rückblick völlig klar Asperger-Autist. Unfassbar, aber es hat keiner gesehen."
Nachfragen kann Leben retten
Auf die schwerste Art und Weise musste Familie Puhl erfahren, wie wichtig es ist, psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig Hilfe anbieten zu können. Nach ihrem tragischen Verlust will Alix Puhl andere Familien vor ihrem eigenen Schicksal bewahren. Zusammen mit ihrem Mann hat sie im vorigen Jahr die gemeinnützige Organisation Tomoni Mental Health in Frankfurt gegründet.
Mit Schulungsangeboten für Lehrkräfte, Eltern und Schülerinnen und Schülern soll das ganze Umfeld von Kindern und Jugendlichen lernen, Anzeichen psychischer Erkrankungen zu bemerken und aktiv zu werden. Der Psychologe Zimmermann betont, wie hilfreich die einfache Frage "Kann ich dir irgendwie helfen?" im richtigen Moment sein kann: "Weil das wirklich auch im Zweifelsfall Leben retten kann."
Suizidprävention in der Schule
Die Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass sich bei Menschen unter 20 mehr als doppelt so viele Jungen wie Mädchen das Leben nehmen (Angaben im PDF, Seite 7). Zimmermann sieht einen Erklärungsansatz darin, dass es Mädchen durch ihre Sozialisierung leichter als Jungen fällt, sich bei Problemen Hilfe zu holen. Allerdings ist die Quote der Suizidversuche bei Mädchen (10 bis 15 Prozent) deutlich höher als bei Jungen (5 Prozent).
Das hessische Kultusministerium gab wegen der alarmierenden Zahlen eine Broschüre zum Thema heraus. Sie bietet Lehrerinnen und Lehrern eine Art Leitfaden, um Warnsignale möglichst früh zu erkennen und gegenzusteuern.
Um das Sprechen über das oft noch tabubesetzte Thema zu lernen und Warnsignale im Umfeld besser zu erkennen, gibt es am Frankfurter Riedberg-Gymnasium seit drei Jahren eine AG Mentale Gesundheit. Der Jugendliche Benjamin Schier ist in der AG und hat eine Message: "Es kein Tabuthema und nicht uncool, darüber zu reden. Es ist wichtig, vor allem wenn man befreundet ist."
Anlaufstelle in Kinderklinik
Eine Anlaufstelle bieten die Darmstädter Kinderkliniken mit dem Projekt "ANNA" - das steht für "Alles, Nur Nicht Aufgeben". Kinder und Jugendliche mit suizidalen Gedanken können montags bis donnerstags kostenlos und ohne Voranmeldung vorbeikommen. Was sie finden, sind eine offene Tür und ein offenes Ohr. Wenn gewünscht, bleibt der komplette Besuch anonym, niemand erfährt davon.
Geschulte Kräfte der Kinderkliniken führen Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen und möchten sie in der Krise auffangen. Sie können aber keine Therapie- oder Klinikplätze vermitteln. Die Psychologin Rebekka Messinesis, die sich im Projekt engagiert, weist darauf hin, dass es derzeit längere Wartezeiten gebe, einfach weil der Bedarf an Hilfe so groß sei.
Psychische Belastung durch Corona
Der gesteigerte Bedarf an Therapieplätzen ist auch durch die Corona-Pandemie zu erklären. Das Bundesfamilienministerium spricht von einer signifikanten Zunahme psychischer Belastungen und Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen während der Pandemiezeit. Ob diese psychisch herausfordernde Zeit einen Einfluss auf die Suizidrate bei Kindern und Jugendlichen hat, lässt sich bislang nicht feststellen.
Zumindest in den Zahlen des Statistischen Landesamts Hessen bis zum Jahr 2022 zeigt sich kein auffälliger Anstieg für Heranwachsende unter 20. Neuere Zahlen liegen nicht vor. Der Psychologe Zimmermann erklärt, dass eine Zunahme von Suiziden grundsätzlich eher nicht während, sondern als Folge von Krisen zu beobachten sei.
Gespräche über das Unsagbare
Projekte wie "ANNA", die Mentale-Gesundheit-AG und die Organisation Tomoni klären auf und stoßen Gespräche über das Unsagbare an. Das Ehepaar Puhl hat erst durch Gespräche über ihren eigenen Verlust von vielen Fällen in ihrem Umfeld erfahren. "Selbst bei engsten Freunden von uns gab es Geschichten, die wir nicht kannten", erzählt Alix Puhl.
Auch präventiv trage ihr Projekt bereits Früchte: Alix Puhl erzählt von einem Lehrer, der am Abend ein Weiterbildungsmodul des Projekts besuchte, in dem es darum ging, Anzeichen von Suizidalität zu bemerken. Schon am nächsten Morgen habe er daraufhin ein Kind angesprochen, und das habe dankbar reagiert, dass jemand etwas bemerkt hat. Inzwischen gehe es dem Jungen wieder gut. Und Alix und Oliver Puhl machen weiter.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 01.06.2024, 19.30 Uhr
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