Mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung Hessische Jugendämter verstärken Schutz für gefährdete Kinder

Immer mehr Säuglinge und Kleinkinder in Notsituationen müssen in Hessen von den Jugendämtern untergebracht werden. Die Städte in Hessen stehen vor einer schwierigen Aufgabe.

Nahaufnahme eines Gesichtes eines Kleinkindes. Es blickt direkt und ernst in die Kamera.
Immer mehr Kleinkinder in Notsituationen müssen in Hessen vom Jugendamt untergebracht werden. Bild © Imago Images
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Misshandelte, missbrauchte Kinder, überforderte Eltern: Wenn es nicht weitergeht, nehmen die Jugendämter auch kleine Kinder und Neugeborene aus den Familien. Zu ihrem eigenen Schutz. Im vergangenen Jahr mussten etwa in Kassel 9 Säuglinge und 14 Kleinkinder in Obhut genommen werden.

"Wir haben steigende Fallzahlen von Inobhutnahmen, insbesondere von Säuglingen, Kleinkindern und Grundschulkindern", sagt Kassels Bürgermeisterin und Kinder- und Jugenddezernentin Nicole Maisch (Grüne).

Eigene Unterkunft für Babys

Eine Entwicklung, die viele Kommunen in Hessen vor große Herausforderungen stellt. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes wurden im Jahr 2004 noch 176 Kinder im Alter von unter drei Jahren in Obhut genommen. 2022 waren es bereits 356.

Um dem steigenden Bedarf bei gleichzeitigem Mangel an Plätzen und Pflegefamilien gerecht zu werden, hat Kassel eine eigene Unterkunft für Babys bis zwölf Monaten eingerichtet.

Im "Nestchen" mit Platz für bis zu vier Kindern kümmert sich ein zwölfköpfiges Team in Nordhessen aus Sozialpädagogen, Erziehern und Krankenschwestern rund um die Uhr. "Wir wollen die Babys gut und sicher unterbringen und das möglichst dort, wo ihre Eltern sie auch sehen können", erläutert Maisch.

Nähe und Zuwendung besonders wichtig

Bei den Kleinsten der Kleinen spielten Nähe und Zuwendung eine besonders wichtige Rolle, berichtet "Nestchen"-Mitarbeiterin Tanja Pacholek. "Manche Kinder kommen direkt aus dem Krankenhaus nur wenige Tage nach ihrer Geburt zu uns", sagt Tobias Spengler, Leiter des "Nestchens".

Bestenfalls blieben die Kinder nicht länger als drei Monate in der Einrichtung. Wenn eine Rückführung in die Herkunftsfamilie nicht funktioniere, werde eine Pflegefamilie gesucht. 

Anlass sind oft Drogenprobleme und Gewalt

Anlass für die Inobhutnahmen seien häufig Drogen- und Alkoholprobleme, häusliche Gewalt, Überforderung der Eltern oder eines Elternteils sowie Anzeichen für Gewalt und Missbrauch wie körperliche Verletzungen, erläutert Jugendamtsleiter Udo Pfingsten. "Das Jugendamt nimmt Kinder nicht einfach weg, sondern nur, wenn es absolut notwendig ist", betont er. 

Ähnlich sieht es auch anderswo in Hessen aus. In Frankfurt hält nach Angaben der Stadt eine Einrichtung des kommunalen Trägers "Kinderheim Rödelheim" eine Gruppe speziell für Säuglinge und Kleinkinder vor. Sei eine Unterbringung in einer durch das Jugendamt Frankfurt betreuten Bereitschaftspflegefamilie nicht möglich, erfolge die Unterbringung in der Regel in dieser Einrichtung sowie in anderen Bereitschaftspflegestellen.

In Wiesbaden besteht der Stadt zufolge das Betreuungsangebot "NeSt". "Hier werden Kinder, auch Säuglinge, mit ihren Eltern oder einem Elternteil, im Rahmen einer zuvor erfolgten Inobhutnahme untergebracht. Dort wird das Kind rund um die Uhr von Fachkräften betreut und versorgt, die Eltern sind tagsüber bei ihrem Kind", erklärt eine Sprecherin. 

Eine spezielle Wohngruppe für Kinder unter zwölf Monaten gibt es ihr zufolge in der Landeshauptstadt nicht. "Wir vertreten in Wiesbaden die Haltung, dass Säuglinge und Kleinkinder, die bereits schlechte Bindungserfahrungen machen mussten, zukünftig verlässliche Bezugspersonen und stetige Bindung in einem Familiensystem erfahren sollen."

Auf dieser Grundlage forciere man die Unterbringung dieser Altersspanne in Bereitschafts- oder Pflegefamilien oder bei Bedarf auch in Erziehungsstellen.

"Mangel an Pflegestellen"

Auch in Marburg setzt man auf die Unterbringung von Säuglingen und Kleinstkindern in einem familiären Rahmen beziehungsweise bei einer geeigneten Einzelperson.

Nach fachlicher Einschätzung des Stadtjugendamtes sei dies unabdingbar, um den Bindungs- und Nähebedürfnissen dieser Altersgruppe gerecht zu werden, erklärt eine Sprecherin. "Bedauerlicherweise ist die Akquise von geeigneten Pflegestellen auch in Marburg erschwert. Insgesamt herrscht ein Mangel an Pflegestellen", ergänzt sie.

Kooperation mit Kinderintensivpflegeeinrichtung

Im Stadtgebiet gebe es eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung, die die Notbetreuung von Kindern im Altersspektrum von zwei bis sechs Jahren leiste. Darüber hinaus bestehe eine enge Kooperation zu einer Kinderintensivpflegeeinrichtung zur Versorgung von Säuglingen mit besonderen medizinischen Bedarfen.

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Inobhutnahmen sind im Sozialgesetzbuch geregelt

Bei einer akuten Gefahr für das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen in seiner Familie ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, eine Inobhutnahme durchzuführen. Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen sind in Deutschland im Sozialgesetzbuch geregelt. Dort sind die Voraussetzungen für eine solche Maßnahme aufgeführt. Auch die Befugnisse klärt das Gesetz. Es regelt auch, wann ein solcher Schritt zu enden hat.

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Auch in Hanau werden Säuglinge und Kleinstkinder in Pflegefamilien untergebracht. "Der Pflegekinderdienst betreut eine Vielzahl an Pflegestellen, die Säuglinge und Kleinstkinder im Rahmen einer Inobhutnahme aufnehmen", erläutert eine Sprecherin. "Aufgrund der steigenden Bedarfe an Pflegestellen befinden wir uns in der ständigen Akquise und Schulung neuer Pflegefamilien."

In Darmstadt werden Kinder bis sechs Jahren laut einem Sprecher der Stadt in Bereitschaftspflegefamilien untergebracht. "Von einer Wohngruppe speziell für Kinder bis zu zwölf Monaten wird abgesehen, da die fachliche Haltung vorliegt, dass Kinder dieser Altersgruppe innerhalb eines familiären Systems in der Krise untergebracht werden sollten", erklärt er.

Vorhandene Plätze lange belegt

Das Finden von geeigneten Bereitschaftspflegefamilien sei allerdings herausfordernd. "Die vorhandenen Plätze sind durch laufende Gerichtsverfahren und Gutachten häufig zu lange belegt, sodass es bei erforderlichen Inobhutnahmen von Kindern bis sechs Jahren oft dazu kommt, dass die Beschäftigten des Städtischen Sozialdienstes andere Jugendämter und Einrichtungen anfragen müssen." Neuplanungen in diesem Bereich seien aufgrund dieser Situation derzeit in Vorbereitung.

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So viele Fälle von Kindeswohlgefährdung wie nie zuvor

Nach Angaben des Statistischen Landesamtes verzeichneten die hessischen Jugendämter 6.200 Fälle von Kindeswohlgefährdungen 2023 und damit rund zehn Prozent mehr als im Jahr davor. In 47 Prozent der Fälle stellten die Jugendämter psychische Misshandlungen fest, in 48 Prozent Vernachlässigung, in 29 Prozent körperliche Misshandlungen und in 5 Prozent Anzeichen sexueller Gewalt. Knapp die Hälfte (46 Prozent) aller Gefährdungseinschätzungen habe Kinder unter sieben Jahren betroffen. In 705 Fällen ordneten hessische Familiengerichte den Angaben zufolge Maßnahmen zum teilweisen oder vollständigen Entzug der elterlichen Sorge an.

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Quelle: dpa/lhe