Katastrophenhilfe nach den Erdbeben Medico-Mitarbeiterin: "Es ist kalt, es schneit - da zählt jede Stunde"
Die Erdbeben in der Türkei und Syrien haben verheerende Auswirkungen. Helferinnen und Helfer suchen nach Überlebenden. Anita Starosta von der Hilfsorganisation Medico International berichtet von der Lage vor Ort und erklärt, weshalb die Hilfe bisher nicht überall ankommt.
Bei den Erdbeben in der Türkei und Syrien sind am Montag nach Behördenangaben mehr als 11.000 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 45.000 wurden verletzt. Zehntausende Helfer aus verschiedenen Ländern sind inzwischen in das Erdbebengebiet gereist, um bei der Suche nach Überlebenden zu helfen und Nothilfe zu leisten.
Anita Starosta von der Hilfsorganisation Medico International mit Sitz in Frankfurt war kurz vor dem Erdbeben im Nordosten Syriens. Im Interview berichtet sie, welche Hilfe jetzt besonders dringend benötigt wird und wo die Schwierigkeiten liegen.
hessenschau.de: Sie sind mit Menschen in Syrien und der Türkei in Kontakt. Was erfahren Sie von dort?
Anita Starosta: Ich war im Nordosten Syriens und bin in stündlichem Kontakt mit den Leuten vor Ort. Der Nordosten ist zum Glück nicht so stark betroffen, dort gab es aber auch große Erschütterungen und die Nacht war schrecklich für die Leute. In Kobane und Aleppo, vor allem in den kurdischen Stadtteilen sind Häuser zusammengestürzt, es gibt Tote und Verletzte.
Der kurdische Halbmond, der lokale Hilfsakteur vor Ort, baut in großen Teilen der Region Zeltstädte auf, weil viele Menschen sich fürchten, in ihre Häuser zurückzukehren. Sie gehen auch davon aus, dass sie dort Flüchtlinge aufnehmen werden. Es herrscht eine starke Krisenstimmung. Vor dem Hintergrund, dass die Lebenssituation sowieso schon extrem prekär war, ist die Sorge um die Zukunft in der Region sehr groß. Ein Großteil der Strom- und Gasversorgung funktioniert nicht, Getreidesilos sind zerstört - und jetzt kommt das Erdbeben hinzu, was die Situation nochmal dramatisch verschlechtert.
Im Südosten der Türkei versuchen wir dringend benötigte Dinge wie Decken, Essen, medizinische Versorgung in die umliegenden Städte von Diyarbakir zu bringen, wo oft noch keine Hilfe angekommen ist. Dort sind Straßen zerstört. Die Leute bangen noch darum, dass Angehörige und Freunde aus den Trümmern geborgen werden können.
hessenschau.de: Wieso ist dort noch keine Hilfe angekommen?
Starosta: In der Südosttürkei betrifft das vor allem die kurdischen Gebiete, wo die kurdische Zivilgesellschaft in der Vergangenheit kriminalisiert wurde und humanitäre Hilfe auch in der Vergangenheit immer wieder erschwert wurde. Das ist auch jetzt der Fall.
Uns berichten die Partnerinnen und Partner vor Ort, dass in vielen kurdischen Städten und Dörfern keine staatliche Hilfe angekommen ist. Sie gehen davon aus, dass das auch in den nächsten Tagen ein großes Problem sein wird. Es ist ja Wahlkampf in der Türkei und es gibt Befürchtungen, dass der türkische Präsident Erdogan auch die Frage der humanitären Hilfe und der Rettung in dem Erdbebengebiet für seinen Wahlkampf indirekt instrumentalisieren könnte.
Genau aus diesen Gründen unterstützt Medico International lokale Hilfsakteure, die genau wissen, wo Hilfe benötigt wird. Das sind zivilgesellschaftliche Organisationen, die beispielsweise auch 2014, als es die Kämpfe im Nordosten Syriens gegen den IS gab, die Flüchtlinge aus Syrien in der Grenzregion versorgt haben. Sie haben Erfahrung in der Frage der Organisation und der Nothilfe, können aber in den kurdischen Gebieten nur unter erschwerten Bedingungen arbeiten, weil die Repression gegen kurdische Vereine und Initiativen in den letzten Jahren extrem zugenommen hat.
hessenschau.de: In den sozialen Netzwerken beispielsweise gibt es Vorwürfe, die türkische Regierung sei mitverantwortlich für die Schäden. Stimmt das?
Starosta: Gerade in den kurdischen Gebieten ist nach den Bürgerkriegen 2015 und 2016 viel von der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft aufgebaut worden. Da sind ganze Wohnviertel entstanden in einer Leichtbauweise, die sicher nicht auf Katastrophenschutz oder Erdbeben ausgerichtet war. Damals ging es darum, Stadtviertel, die extrem zerstört worden sind, schnell wieder aufzubauen, auch andere Bewohnerinnen und Bewohner dort anzusiedeln, um den demografischen Wandel in der Region voranzutreiben. Und genau das sind jetzt Häuser, die eingestürzt sind. Das ist ein großer Kritikpunkt, den Leute vor Ort momentan äußern.
hessenschau.de: Schon kurz nach dem Erdbeben haben zahlreiche Organisationen angefangen, Spenden zu sammeln. Welche Hilfe ist jetzt besonders sinnvoll?
Starosta: Ich glaube, es ist wichtig zu schauen, wer die Akteure sind, die vor Ort Hilfe umsetzen können. Uns haben Berichte erreicht, dass die AKP-Regierung jetzt schon Beschlüsse gefasst hat, dass alle internationale Hilfe über den türkischen Katastrophenschutz und den türkischen Halbmond zentralisiert wird. Das bedeutet auch, dass lokale Vereine und Initiativen, die jetzt schon vor Ort sind und Hilfe viel schneller umsetzen können, auch an Orten, wo die staatliche Hilfe nicht hinkommt, nicht bedacht werden. Wir können aus anderen Krisen sagen, dass genau das notwendig wäre. Es ist kalt, es schneit in der Region, da zählt jede Stunde.
hessenschau.de: Was wird außer Geldspenden benötigt?
Starosta: Es ist wichtig, dass die politischen Bedingungen für humanitäre Hilfe geschaffen werden. Die internationale Gemeinschaft und die Bundesregierung müssen darauf drängen, dass Hilfskorridore gesichert werden und es zu keiner politischen Instrumentalisierung von Hilfe kommt. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt in der Frage, wie in den nächsten Tagen mit den Opfern der Erdbeben umgegangen wird, und in Zukunft auch in der Frage des Wiederaufbaus in der Region. Unabhängige Zugänge müssen gewährleistet sein und offengehalten werden.
Die Fragen stellte Alicia Lindhoff.
Sendung: hr3, 07.02.2023, 16.50 Uhr
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