Hirntumor-Selbsthilfegruppe "Am liebsten hätte ich eine Stopp-Taste gedrückt"
Fünf Jahre lang hat Alia Schilling ihren Mann nach seiner Hirntumor-Diagnose begleitet – bis zu seinem Tod. Beim Umgang mit der Krankheit und ihrer Trauer hätte sie sich einen Austausch mit anderen Betroffenen gewünscht. Mittlerweile leitet sie eine Selbsthilfegruppe.
Alia Schilling lässt ihren Blick den langen, dünnen Baumstamm im Bestattungswald Schiffenberg in Gießen in den Himmel empor wandern. Für sie ist ihr verstorbener Mann Ingo da oben. Er ist an einem Hirntumor gestorben.
Als er die Diagnose bekommt, ist Ingo 28 Jahre alt. Der Tumor in seinem Kopf muss entfernt werden. Die Operation verläuft gut, doch wenige Jahre später kommt der Krebs zurück und es beginnt eine schwierige Zeit für das Paar.
Betreuerin als Vollzeitjob
Ingo muss wieder operiert werden. "Nach der Operation habe ich gemerkt, dass sich seine Persönlichkeit irgendwie verändert hat, also es war anders als vorher. Und dann kam eine Nachoperation nach der anderen", sagt Schilling.
Ingo sei nicht mehr in der Lage gewesen, Dinge zu planen und seine Frustrationstoleranz sei weiter und weiter gesunken. "Einmal hat er auf der Palliativstation alles von seinem Tisch runtergeschmissen und ist darauf herumgesprungen", erinnert Alia Schilling sich.
Sie arbeitete zu dieser Zeit als Lehrerin, hatte eine Tochter im Kindergartenalter und die Erkrankung ihres Mannes wurde immer mehr zum Vollzeitjob: Gespräche mit Ärzten, eine Krankenkassenrechnung nach der anderen, die Frage nach Ingos Unterbringung.
Am liebsten hätte ich eine Stopp-Taste gedrückt, um in der kranken Welt zu bleiben und mich um meinen Mann zu kümmern. Zitat von Alia SchillingZitat Ende
Aber das normale Leben drum herum musste weitergehen. Sie sei vollkommen überlastet gewesen, sagt Schilling. Was sie sich gewünscht hätte: Den Austausch mit anderen Betroffenen. Doch eine Selbsthilfegruppe speziell für Angehörige von Hirntumor-Patienten gab es in ihrer Nähe nicht. Als ihr Mann dann 2016 gestorben ist, hat Alia Schilling ein Buch geschrieben – über die gemeinsame Zeit mit der Krankheit und den Umgang damit.
Schreiben als Trauerverarbeitung
"Das war für mich Trauerverarbeitung", sagt die heute 44-Jährige. Ihren Job als Lehrerin hat sie nach Ingos Tod aufgegeben und sich beruflich umorientiert. Nun ist sie Heilpraktikerin für Psychotherapie und hat sich das, was sie mit ihrem Mann Ingo erlebt hat, zur Aufgabe gemacht: Parallel zu ihrem Buch ist die "Hirntumor-Selbsthilfegruppe Mittelhessen" entstanden, die Schilling leitet.
"Man ist nicht allein"
Eine Teilnehmerin der Selbsthilfegruppe ist Ulrike Bastian aus dem Vogelsbergkreis. Sie trifft sich einmal im Monat mit anderen Betroffenen und Angehörigen in Schillings Praxis in Fronhausen (Marburg-Biedenkopf), weil ihr Sohn Tim einen Hirntumor hat, der nicht heilbar ist. "Mich frisst die Krankheit auf, weil nie der Tag kommt, an dem alles wieder gut ist", sagt die 51-Jährige. Die Angst um ihren Sohn begleite sie ständig. Mit diesem Gefühl fühlte sie sich anfangs allein.
Der Austausch in der Selbsthilfegruppe hilft Ulrike Bastian mit Tims Krankheit umzugehen. Die Mitglieder der Gruppe tragen zum Teil blaue Vereins-T-Shirts, auf dem großen Tisch in der Praxis stehen frisch gebackene Muffins und Getränke. Die Themen, über die gesprochen wird, sind schwer: Es geht um Erfahrungen mit der Krankheit, den Behörden und Ärzten sowie um Behandlungsmethoden, Versicherungen oder Pflegestufen. Neben dem Tisch steht ein Flipchart zum Thema Resilienz.
In ihrem Alltag merke sie, dass viele Angst haben, sie auf die Krankheit anzusprechen, so Ulrike Bastian. "Das finde ich schade", sagt sie. "Ich glaube, die Leute wissen auch einfach zu wenig über die Erkrankung und was das mit dem Menschen machen kann." In der Selbsthilfegruppe wüssten die Menschen genau, wie sie sich fühle, könnten vieles ganz anders nachvollziehen. Die Teilnehmenden sprechen dort auch über die Herausforderungen, die speziell bei Hirntumoren auftreten, wie zum Beispiel die mögliche Persönlichkeits- oder Wesensveränderung der Erkrankten.
Zu wenig Wissen über die Erkrankung
Frank von der Heyde aus Butzbach (Wetterau) hatte selbst einen Hirntumor. Inzwischen geht es dem 66-Jährigen wieder besser. Er nimmt dennoch regelmäßig an den Treffen teil. "Hier wird jeder so wie er ist wertgeschätzt und angenommen", sagt er. Was die Teilnehmenden brauchen, sei ganz individuell. Und das sei auch gut so, sagt von der Heyde. "Es wird auch geweint bei uns und es darf geweint werden. Das ist ganz wichtig." Denn gemeinsam gebe auch das der Gruppe Halt.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 30.10.2023, 19.30 Uhr
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