Holocaust-Gedenktag Darmstädter Jugendliche erinnern an Judendeportation an eigener Schule

Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz jährt sich zum 80. Mal. Auf einer Gedenkfeier in Darmstadt berichten Schüler der Justus-Liebig-Schule, welche Rolle ihre Schule bei den Deportationen von Juden spielte.

David, Sarah, Carla, Eva und Toyah vor einem Graffito auf dem Schulhof der Justus-Liebig-Schule in Darmstadt.
David, Sarah, Carla, Eva und Toyah (v.l.n.r.) vor einem Graffito auf dem Schulhof der Justus-Liebig-Schule in Darmstadt. Bild © Uwe Gerritz (hr)

Eine Hand, die nach dem Schulgebäude greift, Stacheldraht, Totenköpfe - auf dem Schulhof der Justus-Liebig-Schule in Darmstadt (LiO) weist ein Graffito auf ein düsteres Kapitel ihrer Geschichte hin: Als sich die Nationalsozialisten der Schule bemächtigten, um sie als Durchgangslager für die Deportationen von Juden zu nutzen.

"Nicht vergessen, was passiert ist"

"Ich finde es einfach wichtig, dass man daran erinnert und dass nicht in Vergessenheit gerät, was damals passiert ist", sagt Carla Bargmann, Schülerin in der Jahrgangsstufe 10. "Deswegen habe ich mich für das Projekt angemeldet."

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Mit dem Projekt ist die Beteiligung der Schule an einer Veranstaltung der Stadt zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar in der Centralstation gemeint. Auf den Tag genau 80 Jahre ist es dann her, dass das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde. Oberbürgermeister Hanno Benz (SPD) hält die Begrüßungsansprache, die musikalische Umrahmung kommt vom Staatstheater.

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Holocaust-Gedenktag

Mit Holocaust oder Shoah wird der systematische Völkermord an etwa sechs Millionen europäischen Juden durch die Nationalsozialisten zwischen 1941 und 1945 bezeichnet. Neben Juden wurden andere Gruppen wie Roma, Sinti, Menschen mit Behinderungen, politische Gegner und Homosexuelle verfolgt und ermordet.

2005 führten die Vereinten Nationen (UN) zum 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau den 27. Januar als Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ein.

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Schülerinnen und Schüler der LiO gestalten das Programm in diesem Jahr maßgeblich mit. Sie berichten unter anderem über die besondere Rolle ihrer Schule in den Jahren 1942 bis 1943. Mehr als 3.000 Juden wurden dort vor ihrer Deportation in Konzentrationslager vorübergehend inhaftiert.

Die Gestapo saß im Keller

Im Untergeschoss der Schule hatte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) ihre Büros eingerichtet, wie Julie Mathieu, Lehrerin für Politik und Geschichte und Leiterin des Projekts, berichtet. In den oberen Klassenräumen wurden die Gefangenen eingepfercht, oft unter Nahrungsmangel und katastrophalen hygienischen Zuständen.

Mehrere Tage lang blieben sie dort, ehe sie in die Konzentrationslager in Lublin, Auschwitz, Maidanek und Theresienstadt gebracht wurden. Nach Aussage von Mathieu wurden die Vorgänge damals vor der Bevölkerung geheim gehalten. Die Räumung der Schule sei mit einer Sanierung wegen angeblicher Krankheiten begründet worden.

Gedenktafel im Eingangsbereich

An diese Ereignisse erinnert heute eine Gedenktafel im Eingangsbereich der Schule. Sarah Henker, ebenfalls Schülerin in der Jahrgangsstufe 10, und andere werden in der Centralstation über den Inhalt und die Errichtung der Tafel sprechen.

Gedenktafel mit Inschrift
Im Eingangsbereich der Justus-Liebig-Schule erinnert eine Gedenktafel an das Durchgangslager. Bild © Uwe Gerritz (hr)

Die Schüler Toyah Walther und David Nguyen stellen das seit 2018 bestehende Dauerprojekt "Geschichtensammler" vor, das in Zusammenarbeit mit einer Schule in der Normandie (Frankreich) entstand. Dessen Ziel ist es, Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und an die Nachkriegszeit zu sammeln, zu dokumentieren und für die Nachwelt zu bewahren - Abschiedsbriefe etwa.

Aktuell beschäftigten sich die Geschichtensammler, zu denen in Darmstadt derzeit zwischen 50 und 60 Schülerinnen und Schüler gehören, mit Frauen und ihren Rollen im Zweiten Weltkrieg. Es geht um Frauen als Opfer der NS-Zeit, aber auch um solche, die zu Täterinnen wurden, zum Beispiel als KZ-Aufseherinnen.

Viel Interesse bei Jugendlichen - aber noch nicht bei allen

"Die Jugendlichen sind sehr neugierig und interessiert", freut sich Lehrerin Mathieu über das Engagement, das vielfach in der Freizeit stattfindet. Mit den Älteren werden gelegentlich auch Fahrten unternommen, etwa in das Frauen-KZ in Ravensbrück. "Das zu sehen, war sehr beeindruckend", sagt Toyah Walther.

Wirklich negative Reaktionen von Mitschülern auf ihr Engagement habe sie noch nicht erlebt, sagt die Schülerin. Doch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte, die müsse sie schon immer wieder mal zur Kenntnis nehmen. "Da gibt es durchaus welche, die sagen: Das ist doch alles schon so lange her."

Toyahs Mitschülerin Eva Reimann findet, gerade heute sei es deshalb besonders wichtig, auf diesen Teil der Geschichte aufmerksam zu machen. Der Rechtsextremismus greife zunehmend um sich. "Man merkt, wie der Faschismus immer mehr zu einem Problem wird, wie Nazis sich immer mehr trauen, an die Öffentlichkeit zu gehen."

Auch ein Opfer: ein 16-jähriger Soldat

Bei der Gedenkveranstaltung wird Eva die Geschichte eines Mannes vorstellen, der kein Verfolgter und doch ein Opfer der NS-Diktatur war. Der LiO-Schüler Wilhelm Müller wurde mit 16 Jahren eingezogen, musste als deutscher Soldat im Krieg kämpfen. Er überlebte, war aber zeitlebens ein Gezeichneter, wie die Schülerin herausgefunden hat.

Die Schrecken des Krieges habe er nie verwunden, erzählt Eva. Schon kurz nach Kriesgende ging Müller in die Psychiatrie. Dort verbrachte er den Rest seines Lebens, bis er vor zwei Jahren als 99-Jähriger starb. Über seine Betreuerin kontaktierte er die Schule. Es war sein Wunsch, dass seine Geschichte erzählt wird.

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Gedenkveranstaltung der Stadt Darmstadt

Die Gedenkveranstaltung der Stadt Darmstadt findet am 27. Januar ab 11 Uhr im Saal in der Centralstation, Im Carree, Darmstadt, statt. Einlass ist ab 10.30 Uhr. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist jedoch erforderlich per Telefon unter 06151/132314 oder per E-Mail an veranstaltungen@darmstadt.de.

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Der Darmstädter Holocaust-Gedenktag wird seit 2016 Jahren vorwiegend von Jugendlichen gestaltet - auf Vorschlag des Vereins Darmstädter Geschichtswerkstatt, wie dieser mitteilt. Den Jugendlichen solle damit die Möglichkeit gegeben werden, selbst in der Erinnerungsarbeit aktiv zu sein. Den Anfang machten damals die Bertolt-Brecht-Schule und die Lichtenbergschule mit biographischen Erinnerungen.

LiO zum runden Jahrestag dabei

Wegen Corona fand der Gedenktag 2021 digital und letztmals unter Beteiligung mehrerer Schulen statt. Seit 2022 bietet demnach die Stadt Schulen an, sich mit Vorschlägen für die Gestaltung zu bewerben. In diesem Jahr ist erstmals die Justus-Liebig-Schule an der Reihe.

"Dass wir es zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz machen, finde ich total passend", sagt Mathieu. "Denn unser Schulinstitut war ja leider damals daran beteiligt, dass Menschen dorthin geschickt wurden."

Viele Schätze im Archiv

Auch in Ober-Ramstadt (Darmstadt-Dieburg) wird an diesem Montag der Holocaust-Opfer gedacht. Den ebenfalls von Jugendlichen gestalteten Gedenktag dort betreut seit vielen Jahren Harald Höflein, Historiker und Lehrer an der Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule (GCLS). Er ist zudem Archivpädagoge am Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt.

Als solcher setzt er darauf, dass Jugendliche selbst anhand vorhandener Materialien Geschichte recherchieren, Zusammenhänge herausfinden und in Projekten darstellen. "Es gibt wahnsinnig viele Schätze bei uns, die Schüler heben können", sagt er. Für konkrete Themen sucht er auf Wunsch passende Dokumente heraus.

Originale hinterlassen Spuren

"Für die Schüler ist es toll, anhand von Originalquellen solche Entdeckungen zu machen", berichtet Höflein. "Wenn man den echten Abschiedsbrief eines inhaftierten Oppositionellen vor sich hat, dann hinterlässt das schon Spuren." Unter den Jugendlichen entstünden so tolle Beiträge und Diskussionen.

Für seine Arbeit wird Höflein am Montag im Berliner Abgeordnetenhaus mit dem diesjährigen Obermayer Award ausgezeichnet. Der Preis der Obermayer-Stiftung mit Sitz in den USA wird an deutsche Bürger vergeben, die besondere Beiträge leisten, um die jüdische Geschichte und Kultur ihrer Gemeinden zu erhalten.

"Die Jugendlichen sind unsere Multiplikatoren"

Rund 1.000 Jugendliche pro Jahr versorgt der Archivpädagoge nach eigenen Angaben mit Material. Auch die Geschichtslehrerin Julie Mathieu von der Justus-Liebig-Schule nimmt seine Dienste immer wieder in Anspruch, damit Jugendliche für diese geschichtlichen Themen sensibilisiert werden und ihre Erfahrungen weitergeben: "Sie sind unsere Multiplikatoren."

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de