"Weil Hessen mehr verbindet" Wenn 39 Fremde über die ganz großen Themen sprechen
Der Hessische Rundfunk bringt 39 Menschen aus Hessen zwei Tage lang in einem Studio zusammen. Der Auftrag: Sie sollen über Heimat, Ängste, Medien und Meinungsfreiheit diskutieren. Gelingt der Dialog?
Es ist eine Begegnung ganz am Ende des letzten Drehtages. Vor einer grauen Wand steht auf der einen Seite Lawand, 25 Jahre alt. Vor acht Jahren ist er aus dem kurdischen Teil Syriens geflüchtet, hat in Deutschland Abitur gemacht und sein Studium abgeschlossen.
Auf der anderen Seite steht Elisabeth, 80 Jahre alt. Die Rentnerin lebt im Main-Kinzig-Kreis. Regisseur Sergej Moya hat sie zusammengebracht, weil er einen "ganz tollen Moment", einen besonderen Moment der Aufmerksamkeit zwischen beiden während einer Diskussion zum Thema Heimat beobachtet hat, sagt er.
Noch heute sei Heimat ein schwieriger Begriff für sie, sagt Elisabeth. Mit 14 Jahren flüchtete sie mit ihren Eltern aus Ost-Berlin, "ohne, dass ich das wollte oder vorher wusste." Als Elisabeth ihre Geschichte erzählt, hört Lawand genau hin: "Ich hatte sofort Flashbacks im Kopf", sagt er. Ihre Erfahrungen mit dem Thema Flucht verbinden die beiden.
Möglichst vielfältige Menschen treffen aufeinander
Elisabeth und Lawand sind zwei von 39 Menschen, die auf dem Gelände des hr für eine Dialog-Initiative erstmals aufeinandertreffen. Sie sollen einen möglichst repräsentativen Querschnitt der hessischen Gesellschaft abbilden.
Zuvor hatte ein Casting-Team mithilfe von Daten der Medienforschung ein Abbild der hessischen Bevölkerung zusammengesucht - mit Blick auf Alter, Herkunft, Wohnort, Einkommen, Beruf, Religion, Interessen, sexuelle Identität und - besonders wichtig - unterschiedliche Meinungen.
"Weil Hessen mehr verbindet", lautet das Motto der Programmaktion. Es ist eine Initiative des hr für Meinungsvielfalt und mehr Dialog. Die Frage, die die Macherinnen und Macher dieses Experimentes umtreibt: Gelingt der Dialog, auch wenn die Standpunkte weit auseinanderliegen?
"Was beschäftigt die Hessinnen und Hessen?"
"Der hr will nicht nur senden. Wir wollen auch empfangen, in den Dialog gehen, hören: Was beschäftigt die Hessinnen und Hessen?", erklärt Projektleiterin Nina Pater. Dafür öffnen sich an einem Samstag die Türen des größten Fernsehstudios des Hessischen Rundfunks in Frankfurt – und damit auch der Raum für Diskussionen.
Der aus 39 Personen bestehende Querschnitt der hessischen Bevölkerung bewegt sich in das Studio und nimmt auf den Stühlen Platz. Dann beginnt das Experiment.
Angst vor Spaltung der Gesellschaft
Mehrere Kameras rollen lautlos um den Stuhlkreis. Die Diskussion beginnt. "Ich habe das Gefühl, dass die Gesellschaft gespalten ist. Es gibt nur noch Freund und Feind", sagt Lawand. "Man muss einfach aufpassen, was man sagt, sonst hat man direkt den Mob mit Fackeln und Mistgabeln vor der Haustür stehen", findet Tobias aus Wiesbaden.
Projektleiterin Nina Pater schaut aus dem Regie-Raum auf die Diskussion im Studio. "Wir haben natürlich Themen vorgeschlagen", sagt sie. In mehreren Runden geht es zum Beispiel um die Komplexe Heimat, Ängste, Meinungsfreiheit und Demokratie, Medienkritik, gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Umgang mit der Corona-Pandemie. Dabei spielt laut Pater auch die Frage eine Rolle, was man noch sagen oder nicht sagen dürfe. "Alles, was in der Gesellschaft an Themen brodelt."
Kritik an Medien
Als es um die Rolle der Medien geht, äußern einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer grundsätzliche Skepsis. "Wir dürfen unsere Meinung sagen, aber irgendwie wird sie nie ausgestrahlt", findet Constanze aus dem Wetteraukreis.
Tobias aus Wiesbaden beklagt, dass aus seiner Sicht in Radio und Fernsehen zu viel über Negatives berichtet wird: "Ich wünsche mir von den Medien, dass einfach auch die positiven Sachen, vor allem in Deutschland, dargestellt werden."
Vor allem beim Stichwort Corona äußern die Teilnehmenden konkrete Kritik an den Medien. Zwei Jahre lang während der Pandemie nur über ein Thema zu berichten, sei wenig objektiv, bemängelt Klaus aus dem Hochtaunuskreis. Immer wieder seien die gleichen Experten und Politiker befragt worden. Die Corona-Politik sei zu wenig hinterfragt worden, findet auch Angela aus Wiesbaden.
Regisseur: "Mehr bekommen als erhofft"
Zurückgelehnt in seinem Stuhl beobachtet Regisseur Moya die Gespräche im Studio. "Für mich war eine Kern-Voraussetzung, wenn wir so ein Projekt machen, auch selbstkritisch mit unserer Verantwortung umzugehen", sagt der 36-Jährige über seine Rolle als Medienmacher.
Manchmal kommen die Diskutierenden nicht zusammen. Dialog kann eben auch bedeuten, Meinungen auszuhalten, die einem nicht gefallen. Regisseur Moya hält das Experiment für gelungen. "Ich habe als Regisseur mehr bekommen, als ich mir erhofft habe."
Teilnehmer zufrieden mit Gesprächsklima
Am Ende der zwei langen Drehtage fragt Regisseur Moya alle Teilnehmenden nach ihrem Resümee: "Wie hast du die beiden Tage empfunden, wie geht es Dir?"
"Es hat mich überrascht", sagt Thomas aus dem Werra-Meißner-Kreis, "dass man doch auf einer sachlichen Ebene mit völlig konträren Meinungen diskutieren kann, ohne ausfallend zu werden." Betül aus Frankfurt ergänzt: "Wenn man auf einer persönlichen Ebene spricht, sieht man, dass man viel gemeinsam hat."
Ihre Kommentare Wie und wo treten sie in den Dialog mit Menschen, die anderer Meinung sind?
9 Kommentare
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Hervorragende Sendung. Längst überfällig. Bitte weiterführen.
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Vielen Dank für den heutigen Fernsehabend. Er verdient weitergeführt zu werden. Es gäbe noch so viele Themen über die diskutiert werden muß, vielleicht fänden wir auch einen Weg, der Verrohung unserer Gesellschaft Einhalt zu gebieten, mehr Acht aufeinander zu geben und Rücksicht aufeinander zu nehmen und unseren Egoismus zu zügeln.
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Bitte mehr Sendungen dieser Art, vielen Dank. Mein Meinungsaustausch findet nur im persönlichen Umfeld statt.
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