Ehrenamtliche in den Arolsen Archives Im Einsatz gegen das Vergessen

Mehr als 80 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz sind viele Schicksale der Opfer des Holocaust noch ungeklärt. Dutzende Freiwillige suchen für die Arolsen Archives heute nach Angehörigen - überall auf dem Planeten.

Eine junge Frau mit buntem Kopftuch, rotem Pullover und einem Teddybären in der Brusttasche ihrer Jacke lächelt vor dem Schloss in Bad Arolsen in die Kamera
Zofia Przeworska (22) sucht ehrenamtlich nach Angehörigen von NS-Opfern Bild © Leander Löwe/hr

Stimmen wirren durch das Foyer, als die junge Polin Zofia Przeworska die Arolsen Archives betritt. Französisch, Polnisch, Englisch, Spanisch, Deutsch.

Menschen aus der ganzen Welt sind an diesem Freitag nach Bad Arolsen gekommen, um sich kennenzulernen. Was sie verbindet: Schon seit Jahren suchen sie nach Angehörigen von Menschen, die durch die Nationalsozialisten verfolgt und oft auch getötet wurden.

Ehrenamtliche stehen im Archiv und schauen in einen Aktenschrank
Die Ehrenamtlichen, darunter Zofia Przeworska (r.), bekommen eine Führung durch das Archiv in Bad Arolsen. Bild © Leander Löwe/hr

Freiwillige helfen bei Rückgabe von KZ-Relikten

Ihr Ziel: Den Hinterbliebenen die letzten Gegenstände zurückzugeben, die den Häftlingen in den Konzentrationslagern der Nazis gestohlen wurden. Noch etwa 2.000 solcher Gegenstände - auch Effekten genannt - liegen bis heute im Archiv in Bad Arolsen (Waldeck-Frankenberg).

Seit 2016 versuchen die Arolsen Archives in der nordhessischen Kleinstadt, die rechtmäßigen Besitzerinnen und Besitzer solcher Effekten ausfindig zu machen. Dafür benötigt es die freiwillige Helferinnen und Helfer, die nun bei diesem ersten Internationalen Freiwilligentreffen zusammenkommen.

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Was sind Effekten?

Auf einem Tisch liegen drei Fotos, drei Stifte, eine Zigarrendose, eine Zigarettenschachtel, ein Puderdöschen und drei Stifte
Gegenstände zum Erinnern: Solche Effekten sind oft die letzten Hinterlassenschaften von Opfern des NS-Regimes. Bild © Leander Löwe/hr

Effekten (ein altes Wort für "Habseligkeiten", das heute vorwiegend im formal-juristischen Sinne verwendet wird) waren oft die letzten Gegenstände, die KZ-Häftlinge vor ihrer Inhaftierung abgeben mussten. Meist handelt es sich dabei um Altagsgegenstände, die sie an ihrem Körper trugen: Ringe, Briefe, Taschenuhren, Ketten, Puderdöschen, Fotos. Sie werden heute in Aktenschränken des Archivs aufbewahrt.

Mit dem Projekt "Stolen Memory" (auf deutsch "Gestohlene Erinnerung") versuchen die Mitarbeiter der Arolsen Archives aktiv, sie den rechtmäßigen Besitzerinnen und Besitzern zurückzugeben. Bisher gelang das in etwas mehr als 1.000 Fällen. Doch die Zeit rennt, denn nach 80 Jahren sind Angehörige oft schwer zu finden.

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Archivrechercheurin: "Wir sind alle Freunde geworden"

Małgorzata Przybyła betreut das Effekten-Rückgabe-Projekt seit seinen Anfängen. Die Suche beginne immer in ihrem Büro in Bad Arolsen, berichtet sie dem hr: "Aber wir kommen meist an einen Punkt, wo vor Ort weiter recherchiert werden muss. Das übernehmen die Freiwilligen."

Knapp 30 der weltweit 70 bis 80 Ehrenamtlichen sind aus ihren Heimatländern Spanien, Kanada, Holland, Frankreich, Belgien und Polen nach Nordhessen gekommen. "Es war für uns sehr wichtig, ihnen Wertschätzung und Dankbarkeit zu zeigen", sagt Przybyła, "wir sind alle Freunde geworden."

Eine Frau steht vor einem Aktenschrank und lächelt sympathisch in die Kamera
Małgorzata Przybyła recherchiert hauptamtlich für die Arolsen Archives die Schicksale von NS-Opfern. Bild © Leander Löwe/hr

30 Millionen Dokumente an geheimem Ort helfen bei der Suche

Eine große Hilfe bei der Suche sind die 30 Millionen Dokumente zu NS-Verbrechen, die in den Arolsen Archives eingelagert sind: An einem geheimen Ort auf 1.800 Quadratmetern, so lange, bis der Neubau im Zentrum des Städtchens fertig ist.

An diesem Ort erhalten die Freiwilligen einen Einblick in die zentrale Namenskartei, mit der sie online in der Vergangenheit bereits gearbeitet haben. "Jahrzehntelang war das hier der zentrale Schlüssel für die Recherche", erklärt Archivarin Nicole Dominikus.

Videobeitrag

Arolsen Archives – weltweites Treffen in Bad Arolsen

Menschen bei einer Fühung durch die Arolsen Archives.
Bild © hessenschau.de
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"Hier kann man die Geschichte mit dem ganzen Körper fühlen"

Die 22-jährige Przeworska war vor zwei Jahren schon einmal in Bad Arolsen. Hierher zurückzukommen, bedeutet ihr viel. "Es ist ein großartiges Gefühl, diese Dokumente zu sehen, zu fühlen, zu riechen. Dieser Raum hat eine ganz besondere Aura und auch einen bestimmten Geruch. Hier kann man die Geschichte mit dem ganzen Körper fühlen", sagt sie.

Viele Menschen sitzen auf einer Treppe vor einem Haus
Die freiwilligen Helferinnen und Helfer bei ihrem ersten Treffen - gemeinsam mit den Mitarbeitenden der Arolsen Archives. Bild © Leander Löwe/hr

Von der Ehrenamtlichen zur Judaistin

Gemeinsam mit drei ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern begann Przeworska schon in der Schule mit der Hinterbliebenen-Suche. Inspiriert von dem Projekt, studiert sie heute Judaistik und vergleichende Kulturwissenschaft.

In den vergangenen Jahren konnte die kleine Gruppe schon sechs Angehörige ausfindig machen. Freiwillige wie sie durchforsten viele Quellen, darunter Geburtenregister, Friedhofsregister, Ahnenportale und die sozialen Medien.

Vier Jugendliche stehen vor dem Schloss von Bad Arolsen
Die vier polnischen Studierenden um Zofia Przeworska sind den weiten Weg mit der Bahn nach Bad Arolsen gekommen. Bild © Leander Löwe/hr

Stadtführung: Bad Arolsen war einst selbst SS-Hochburg

Zum Treffen in Bad Arolsen sind die vier Studierenden zwölf Stunden mit dem Zug angereist. Bei einer Stadtführung setzen sie sich auch mit der braunen Vergangenheit von Bad Arolsen auseinander.

Sie erfahren vom ehemaligen Fürsten Josias zu Waldeck und Pyrmont, der während der Nazi-Herrschaft hochrangiger SS-Offizier war, Karriere machte und Hitler und Himmler zu den Taufpaten seines Sohnes ernannte.

Zofia Przeworska: "Als polnische Frau treibt mich das sehr um"

"Die Vergangenheit ist Teil unseres Vermächtnisses, und sie ist Teil davon, wer wir sind", sagt Przeworska vor dem Schloss des Kurstädtchens. Die Geschichte von Bad Arolsen sei durch die Archive inzwischen zu einem großen Teil ihrer eigenen Geschichte geworden.

Die Kriegsvergangenheit des Ortes und die lückenhafte Aufarbeitung durch den heimischen Adel sieht Przeworska dennoch kritisch: "Als polnische Frau treibt mich das sehr um. Dass hier heute noch Spannungen darüber entstehen müssen, verstehe ich nicht."

Eine kleine Gruppe Menschen steht vor Aktenregalen
Die Ehrenamtlichen haben für ihr erstes Treffen ein volles Programm: Erst erfolgt der Archiv-, dann der Stadtrundgang. Bild © Leander Löwe/hr

Zwei Effekten gehen zurück nach Bochum

Inzwischen ist die nordhessische Barockstadt zum Symbol für die Aufarbeitung des NS-Unrechts geworden. Auch an diesem Tag werden hier Effekten übergeben: zwei Ringe von August Hanowski. Der Lehrer wurde 1940 als politischer Gefangener ins KZ Natzweiler und danach nach Dachau verschleppt.

Dort wurde er befreit und überlebte den Krieg. Seine Großnichte Martina Grubert aus Bochum ist vor der Übergabe sehr aufgeregt. "Ich wusste von der Geschichte überhaupt nichts, bis man mich kontaktiert hat", sagt sie. Sie sah den Großonkel zuletzt 1978 im ehemaligen Ostpreußen.

Zwei Ringe liegen auf einem Samtkissen
Sie gehörten August Hanowski: Ein Ehe- und ein Siegelring aus der Effektensammlung der Arolsen Archives. Bild © Leander Löwe/hr

"Es lohnt sich auf jeden Fall weiterzusuchen, auch wenn viele Angehörige bestimmt nicht mehr gefunden werden", sagt die Angehörige später zum Publikum. Die Geschichte ihres Großonkels habe sie sehr berührt.

Auch Zofia Przeworska freut sich, der Übergabe beiwohnen zu können. Sie hofft, in Zukunft noch viele weitere arrangieren zu können.

Eine Frau hält zwei Ringe in der Hand und lächelt. Daneben steht eine zweite Frau.
Glücklich, die Ringe ihres Großonkels wieder in Händen zu halten: Martina Grubert (l.) und Małgorzata Przybyła (r.) bei der Übergabe in den Arolsen Archives. Bild © Leander Löwe/hr
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Was sind die Arolsen Archives?

Die Arolsen Archives wurden 1948 als ITS (International Tracing Service, auf deutsch "Internationaler Suchdienst") gegründet. Das Archiv ist nicht nur eine deutschlandweit, sondern eine international einzigartige Organisation. Ihr stehen agierende Diplomaten aus elf verschiedenen Ländern vor, koodiniert durch einen Internationalen Ausschuss.

Es gibt zwar viele Archive, die Dokumente zur NS-Verfolgten besitzen (etwa das Bundesarchiv und die Landesarchive), das in Bad Arolsen besitzt aber die größte Sammlung. Es enthält Hinweise zu rund 17,5 Millionen Menschen. Die Dokumente gehören zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Außerdem verwahren die Arolsen Archives die letzten erhaltenen persönlichen Gegenstände von Inhaftierten aus verschiedenen Konzentrationslagern wie Auschwitz und Neuengamme - die sogenannten Effekten.

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Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de