Ehrenamtliche in den Arolsen Archives Im Einsatz gegen das Vergessen
Mehr als 80 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz sind viele Schicksale der Opfer des Holocaust noch ungeklärt. Dutzende Freiwillige suchen für die Arolsen Archives heute nach Angehörigen - überall auf dem Planeten.
Stimmen wirren durch das Foyer, als die junge Polin Zofia Przeworska die Arolsen Archives betritt. Französisch, Polnisch, Englisch, Spanisch, Deutsch.
Menschen aus der ganzen Welt sind an diesem Freitag nach Bad Arolsen gekommen, um sich kennenzulernen. Was sie verbindet: Schon seit Jahren suchen sie nach Angehörigen von Menschen, die durch die Nationalsozialisten verfolgt und oft auch getötet wurden.

Freiwillige helfen bei Rückgabe von KZ-Relikten
Ihr Ziel: Den Hinterbliebenen die letzten Gegenstände zurückzugeben, die den Häftlingen in den Konzentrationslagern der Nazis gestohlen wurden. Noch etwa 2.000 solcher Gegenstände - auch Effekten genannt - liegen bis heute im Archiv in Bad Arolsen (Waldeck-Frankenberg).
Seit 2016 versuchen die Arolsen Archives in der nordhessischen Kleinstadt, die rechtmäßigen Besitzerinnen und Besitzer solcher Effekten ausfindig zu machen. Dafür benötigt es die freiwillige Helferinnen und Helfer, die nun bei diesem ersten Internationalen Freiwilligentreffen zusammenkommen.
Archivrechercheurin: "Wir sind alle Freunde geworden"
Małgorzata Przybyła betreut das Effekten-Rückgabe-Projekt seit seinen Anfängen. Die Suche beginne immer in ihrem Büro in Bad Arolsen, berichtet sie dem hr: "Aber wir kommen meist an einen Punkt, wo vor Ort weiter recherchiert werden muss. Das übernehmen die Freiwilligen."
Knapp 30 der weltweit 70 bis 80 Ehrenamtlichen sind aus ihren Heimatländern Spanien, Kanada, Holland, Frankreich, Belgien und Polen nach Nordhessen gekommen. "Es war für uns sehr wichtig, ihnen Wertschätzung und Dankbarkeit zu zeigen", sagt Przybyła, "wir sind alle Freunde geworden."

30 Millionen Dokumente an geheimem Ort helfen bei der Suche
Eine große Hilfe bei der Suche sind die 30 Millionen Dokumente zu NS-Verbrechen, die in den Arolsen Archives eingelagert sind: An einem geheimen Ort auf 1.800 Quadratmetern, so lange, bis der Neubau im Zentrum des Städtchens fertig ist.
An diesem Ort erhalten die Freiwilligen einen Einblick in die zentrale Namenskartei, mit der sie online in der Vergangenheit bereits gearbeitet haben. "Jahrzehntelang war das hier der zentrale Schlüssel für die Recherche", erklärt Archivarin Nicole Dominikus.

"Hier kann man die Geschichte mit dem ganzen Körper fühlen"
Die 22-jährige Przeworska war vor zwei Jahren schon einmal in Bad Arolsen. Hierher zurückzukommen, bedeutet ihr viel. "Es ist ein großartiges Gefühl, diese Dokumente zu sehen, zu fühlen, zu riechen. Dieser Raum hat eine ganz besondere Aura und auch einen bestimmten Geruch. Hier kann man die Geschichte mit dem ganzen Körper fühlen", sagt sie.

Von der Ehrenamtlichen zur Judaistin
Gemeinsam mit drei ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern begann Przeworska schon in der Schule mit der Hinterbliebenen-Suche. Inspiriert von dem Projekt, studiert sie heute Judaistik und vergleichende Kulturwissenschaft.
In den vergangenen Jahren konnte die kleine Gruppe schon sechs Angehörige ausfindig machen. Freiwillige wie sie durchforsten viele Quellen, darunter Geburtenregister, Friedhofsregister, Ahnenportale und die sozialen Medien.

Stadtführung: Bad Arolsen war einst selbst SS-Hochburg
Zum Treffen in Bad Arolsen sind die vier Studierenden zwölf Stunden mit dem Zug angereist. Bei einer Stadtführung setzen sie sich auch mit der braunen Vergangenheit von Bad Arolsen auseinander.
Sie erfahren vom ehemaligen Fürsten Josias zu Waldeck und Pyrmont, der während der Nazi-Herrschaft hochrangiger SS-Offizier war, Karriere machte und Hitler und Himmler zu den Taufpaten seines Sohnes ernannte.
Zofia Przeworska: "Als polnische Frau treibt mich das sehr um"
"Die Vergangenheit ist Teil unseres Vermächtnisses, und sie ist Teil davon, wer wir sind", sagt Przeworska vor dem Schloss des Kurstädtchens. Die Geschichte von Bad Arolsen sei durch die Archive inzwischen zu einem großen Teil ihrer eigenen Geschichte geworden.
Die Kriegsvergangenheit des Ortes und die lückenhafte Aufarbeitung durch den heimischen Adel sieht Przeworska dennoch kritisch: "Als polnische Frau treibt mich das sehr um. Dass hier heute noch Spannungen darüber entstehen müssen, verstehe ich nicht."

Zwei Effekten gehen zurück nach Bochum
Inzwischen ist die nordhessische Barockstadt zum Symbol für die Aufarbeitung des NS-Unrechts geworden. Auch an diesem Tag werden hier Effekten übergeben: zwei Ringe von August Hanowski. Der Lehrer wurde 1940 als politischer Gefangener ins KZ Natzweiler und danach nach Dachau verschleppt.
Dort wurde er befreit und überlebte den Krieg. Seine Großnichte Martina Grubert aus Bochum ist vor der Übergabe sehr aufgeregt. "Ich wusste von der Geschichte überhaupt nichts, bis man mich kontaktiert hat", sagt sie. Sie sah den Großonkel zuletzt 1978 im ehemaligen Ostpreußen.

"Es lohnt sich auf jeden Fall weiterzusuchen, auch wenn viele Angehörige bestimmt nicht mehr gefunden werden", sagt die Angehörige später zum Publikum. Die Geschichte ihres Großonkels habe sie sehr berührt.
Auch Zofia Przeworska freut sich, der Übergabe beiwohnen zu können. Sie hofft, in Zukunft noch viele weitere arrangieren zu können.
