Fast jeder fünfte Hesse ist arm Im Kampf gegen Armut hat Kassel einen Plan
In Hessen ist fast jeder fünfte Haushalt von Armut betroffen, das Problem wächst. Was kann eine Stadt dagegen tun? In Kassel wurde ein Pakt gegen Armut geschmiedet.
Aleksandra (Name auf Wunsch geändert, d. Red.) steht mit einer vollen Plastiktüte mit Brot, Karotten, Zucchini, Äpfeln und Mandarinen vor der Neuen Brüderkirche in Kassel. Sie hat noch einen Salatkopf übrig und fragt die anderen Frauen um sich herum, wer noch Bedarf hat. Dreimal in der Woche werden hier Lebensmittel verteilt, die Supermärkte sonst wegwerfen würden.
Aleksandra ist vor fünf Monaten vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtet. Das Leben sei seitdem schwer, sagt sie. Das Taschengeld, das ihr zur Verfügung steht, reiche nicht, um genug Essen zu kaufen.
"Das beste Leben ist in der Ukraine"
Die Lebensmittelausgabe am Nachmittag dauert immer eine Stunde. Viele stellen sich schon deutlich früher an und warten, bis es losgeht. An diesem Dienstag sind viele Frauen aus der Ukraine gekommen, manche mit ihren Kindern. Der Hof des Gemeindezentrums ist voll.
Es sei ihr unangenehm, in Deutschand auf die Tafeln und die Angebote der Kirche angewiesen zu sein, erzählt Aleksandra. Sie spricht kein Deutsch oder Englisch, eine App auf dem Handy hilft beim Übersetzen. Es sei gut, dass die Deutschen ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, aber sie wolle nicht zur Last fallen: "Wenn der Krieg schnell enden würde, wäre ich sofort zurück, das beste Leben ist in der Ukraine", sagt Aleksandra. Dort war sie nicht arm.
Im Oktober waren rund 3.900 Geflüchtete aus der Ukraine in Kassel registriert. Wo es Gratislebensmittel gebe, habe sich unter den Ukrainerinnen schnell rumgesprochen, erzählt Aleksandra.
Die Armut wächst
Ehrenamtliche Angebote wie bei der Neuen Brüderkirche oder den Tafeln sind nötig, weil der Staat die Armut durch seine Leistungen längst nicht mehr ausgleichen kann - oder die Menschen mit seinen Maßnahmen nicht erreicht. Dass die Armut in Hessen wächst, zeigt der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der im Juli veröffentlicht wurde.
Die Armutsquote liegt dabei im Schnitt bei 18,3 Prozent, damit fiel Hessen von Platz sieben auf Platz elf im Vergleich unter den Bundesländern zurück. Die Quote zeigt, wie viele Haushalte ein Einkommen haben, das unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Sie gelten als arm. Durch hohe Lebensmittelpreise und Energiekosten verschärft sich die Situation für viele Menschen. In Mittelhessen ist jeder Fünfte arm, in Nordhessen sind es mit über 18 Prozent fast ebenso viele.
Armutsbekämpfung - aber wie?
Aber wie bekämpft man als Stadt die Armut? In Kassel wurde dazu ein Pakt geschmiedet: So sollen soziale Träger, Initiativen und Experten zusammenkommen. Etwa 40 Initiativen in Kassel kümmern sich bereits um Armutsbetroffene und Armutsbekämpfung. Gemeinsam sollen sie nun Wege finden, um die Menschen in Kassel besser zu erreichen.
Die erste Arbeitskonferenz der Paktpartner gegen Armut findet Mitte November statt. Es gibt verschiedene Schwerpunkte und Foren, etwa zu Altersarmut, Kinderarmut und Sozialer Teilhabe. So sollen die größten Probleme gefunden und angegangen werden.
18 Prozent in Kassel sind arm
Über 22.000 Menschen in Kassel erhalten Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II. Dabei sind jene noch nicht eingerechnet, die auf Grundsicherung oder Wohngeld angewiesen sind. Die Armutsquote der Stadt liegt bei 18 Prozent, jedes vierte Kind wächst in Kassel in Armut auf.
Mit den 18 Prozent an Armutsbetroffenen in Kassel sind noch nicht alle Bedürftigen erfasst: Denn längst nicht alle von ihnen bekommen die Hilfe, die ihnen zusteht - etwa weil sie sich schämen, überhaupt zum Amt zu gehen. In der Wissenschaft sei längst bekannt, dass es bei der Armutsbekämpfung nicht ausreiche, im Rathaus ein Büro zu errichten und zu warten, bis jemand kommt, sagt Wolfgang Schroeder, Politologie-Professor an der Universität Kassel.
Scham, Angst vor Bürokratie, Unwissenheit
Schroeder begleitet mit seinem Team den Pakt gegen Armut als Wissenschaftler. Geschätzt 30 Prozent derjenigen, denen Hilfe zustünde, nähmen sie gar nicht in Anspruch, sagt er. Sie tauchten daher nicht in der Armutsstatistik auf. Neben der Scham seien dabei oft die Angst vor Bürokratie und Scheitern, Unwissenheit und die Befürchtung, kontrolliert zu werden, ausschlaggebend. "Da muss man ran", sagt Schroeder: "Armutspolitik kann auch bedeuten, dass man die Menschen empowert, dass sie überhaupt ihre Rechte in Anspruch nehmen." Hier könne der Pakt gegen Armut helfen.
Kassel habe eine hohe Arbeitslosenquote und durch Migration viele Menschen, die kein eigenes Einkommen erzielen könnten und deren prekäre Situation auch nicht immer über Sozialleistungen abgefedert werde, sagt Schroeder. Sozialverbände bemängeln seit Jahren, dass staatliche Leistungen oft viel zu knapp bemessen seien, um ein würdiges Leben zu ermöglichen.
Kommunen können nicht alles abfedern
Den Städten und Kommunen seien bei der Armutsbekämpfung allerdings Grenzen gesetzt, erklärt Bürgermeisterin und Sozialdezernentin Ilona Friedrich (SPD): "Wir können nicht die Hartz-IV-Sätze erhöhen." Auch an kleinen Renten kann eine Kommune nichts ändern, deren Höhe verantwortet die Bundesregierung.
Sache der Kommunen sei eher, dafür zu sorgen, dass Entscheidungen der Bundespolitik wie diejenige, dass deutlich mehr Menschen in der Energiekrise Wohngeld bekommen können, auch bei den Zielgruppen ankämen, sagt Friedrich. Oder dass die Hilfsangebote ausgebaut würden, wenn mehr Menschen in Not gerieten.
Kassel will ein Gesamtbudget von 200.000 Euro für Projekte gegen die Armut zusammenbekommen. Eine große Summe kam bereits von einem anonymen Großspender, wie Friedrich berichtet. Auch Unternehmernetzwerke hätten sich gemeldet, um den Pakt zu unterstützen. Bis konkrete Hilfen umgesetzt werden, könne es aber noch dauern.
Ob das in der aktuellen Lage reicht und sich andere Kommunen künftig bei der Armutsbekämpfung etwas von Kassel abschauen können, will das Team um Wolfgang Schroeder wissenschaftlich aufarbeiten. Die ersten Nachfragen von anderen Kommunen zum Pakt gegen Armut habe es schon gegeben, sagt Bürgermeisterin Friedrich.
Drängende Probleme
Die Menschen, die vor der Neuen Brüderkirche anstehen, brauchen eigentlich sofort Unterstützung. Nach einer Stunde sind die Kisten mit Lebensmitteln fast leer. Hamid (Name auf Wunsch geändert, d. Red.) stand als letzter in der Reihe. Er sei aus Afghanistan geflüchtet, erzählt er, und komme ein bis zwei Mal im Monat zur Lebensmittelausgabe, wenn sein Geld und das Essen nicht mehr reichten. Dann hole er sich Brot und Gemüse, um die nächsten Tage zu überbrücken.
Was ist sein drängendstes Problem? Einen Job zu finden, sagt Hamid, er wolle sein eigenes Geld verdienen. Noch warte er auf eine Arbeitserlaubnis. Wenn die da sei, hofft er, müsse er sich nicht mehr für gespendete Lebensmittel anstellen.
Sprachhürden und feuchte Wohnung
Aleksandra sagt, für sie sei die schwierigste Hürde die Sprache: Sie müsse dringend zu Ärzten, aber dort komme sie mit ihrer Translation-App nicht weiter. Einen Dolmetscher könne sie sich nicht leisten. Außerdem sei ihre Unterkunft feucht, das mache ihr Sorgen.
Aktuell sei aber ihr größtes Problem, dass ihr Enkel, den sie zur Lebensmittelausgabe mitgenommen hat, seinen Fußball in der Menschenmenge verloren habe, erzählt sie und lacht. Wenn der Ball wieder auftaucht, sei ihr schon mal geholfen - zumindest für diesen Tag.