"Wo soll das noch enden?" Immer mehr ältere Menschen von Armut betroffen
Die meisten Menschen träumen von einer unbeschwerten Zeit in der Rente. Doch die Realität sieht anders aus. Jeder fünfte ältere Mensch ist armutsgefährdet. Besonders häufig sind Frauen betroffen.
Tina sitzt an ihrem Küchentisch. Die 60-Jährige geht eine Liste durch, auf der ihre monatlichen Ausgaben stehen. "Zu zahlen habe ich einmal an Strom und Gas 106 Euro. Dann kommt die Warmmiete von 637,70 Euro dazu", erzählt sie. Außerdem kosten Telefon und Internet 35 Euro, das Fernsehen 15 Euro, die Kontogebühren 13 Euro, die Handys 17 Euro und die Haftpflichtversicherung 6 Euro. Es folgen noch Katzenfutter und Fußpflege. Zum Leben blieben im Monat 300 Euro für zwei Personen, sagt sie.
60-Jährige finanziert Sohn mit
Tina lebt mit ihrem 32-jährigen Sohn in der Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Vorort von Wetzlar. Er studiert Wirtschaftsingenieurwesen und arbeitet eigentlich nebenbei. Zurzeit hat er allerdings keinen Job. Ihrem Sohn sei gekündigt worden, sagt sie. Er habe keine Einnahmen. "Das heißt: Ich muss ihn finanziell mitdurchziehen", so die 60-Jährige.
Tina lebt von einer Erwerbsminderungsrente, Pflegegeld und der Grundsicherung. Gearbeitet hat sie bis 2009. Zunächst war sie in einer Schreinerei, in der auch ihr Vater beschäftigt war, später dann in der Gastronomie. Dann machte ihre Gesundheit nicht mehr mit.
Jede fünfte Frau im Rentenalter ist armutsgefährdet
Die 60-Jährige ist von Altersarmut bedroht. Sie gehört zu den Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. "Im vergangenen Jahr waren in Hessen 15,5 Prozent der Männer und 20,7 Prozent der Frauen von Altersarmut betroffen. Das ist mehr als jede fünfte Frau im Rentenalter in Hessen. Das sind alarmierende Zahlen", sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Joachim Rock.
Alarmierend für Rock ist auch der Trend, der nach oben zeigt. Im Vergleich zum Jahr 2014 ist die Quote an armutsgefährdeten Menschen im Rentenalter bundesweit um mehr als elf Prozent gestiegen. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervor. Besonders häufig von Armut betroffen sind alleinerziehende und alleinlebende Frauen, Langzeitarbeitslose und Menschen mit geringer Bildung.
"Ich habe mich geschämt"
Tina hatte während der Corona-Pandemie Pflegegeld beantragt. Zunächst wurde ihr Pflegegeld der Stufe 2 zugesprochen, inzwischen hat sie Anspruch auf Stufe 3. Das hatte sie lange Zeit vor sich hergeschoben. "Ich habe mich geschämt, deswegen habe ich auch meine Pflegestufe zu spät beantragt, das hätte ich schon viel früher machen können. Ich habe mich auch anfänglich geschämt, vom Amt zu leben", sagt sie.
Scham und Angst vor einer Stigmatisierung sind offenbar weit verbreitet, wie Forscher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin in einer Studie herausgefunden haben. Joachim Rock kann diese Angst bestätigen. "Viele ältere Menschen haben Scheu, Leistungen in Anspruch zu nehmen." Es sei deshalb wichtig, dass es keine falsche Scheu gebe, sich beraten zu lassen, etwa bei Sozialberatungsstellen, bei der Deutschen Rentenversicherung oder bei den Ämtern in den Gemeinden und Kreisen.
"Die Leute distanzieren sich"
Tina weiß, dass es ohne die staatliche Unterstützung nicht geht. Was kauft sie von den 300 Euro, die ihr und ihrem Sohn bleiben? "Wir können uns zum Beispiel nicht jeden Tag Fleisch leisten oder teuren Salat. Ich warte immer, bis etwas im Angebot ist. Wir müssen auf einiges verzichten", erzählt sie. Urlaub oder Kino seien nicht drin. "Aber was wir uns wirklich mal gönnen: Wir lassen uns einmal im Monat Essen kommen." Das fühle sich an wie ein Tag Urlaub, meint sie und lächelt.
Die meisten anderen Tage erlebt Tina dagegen anders. "Die Leute distanzieren sich, es wird immer weniger um einen herum. Ich habe keine Familie, ich habe keine Freunde und ich habe auch niemanden, den ich mal anrufen und sagen kann: Hilf mir." Sie wisse aber, dass sie sich auf ihren Sohn verlassen könne - selbst, wenn er einmal ausziehe.
Die Diskussion ums Bürgergeld
Tina verfolgt auch politische Debatten wie jüngst die Diskussion um das Bürgergeld. Alleinstehende Bürgergeld-Empfänger bekommen aktuell 563 Euro im Monat. Zu viel, findet FDP-Fraktionschef Christian Dürr. Angesichts der Inflationsentwicklung falle das Bürgergeld mit "aktuell 14 bis 20 Euro im Monat zu hoch aus", sagte er in einem Interview mit der BILD-Zeitung.
Tina hat diese Aussage fassungslos gemacht: "Man lebt wirklich nicht schön davon, und dann noch etwas davon streichen. Wo soll das noch enden? Auf der Straße, unter der Brücke landen wir dann."