Jüdischer Studierendenvertreter "Die Unis Kassel und Marburg sind Hotspots antisemitischer Vorfälle"
Der Terrorangriff der Hamas hat das Sicherheitsgefühl vieler Jüdinnen und Juden erschüttert - auch an den hessischen Hochschulen fühlen sich viele von ihnen nicht sicher. Anlass für die Studierenden, lange formulierte Forderungen an die Unis zu erneuern.
Anfeindungen in den Sozialen Medien, Markierungen an Wohnungen und Häusern, Hassparolen bei Demonstrationen: Seit die Hamas am 7. Oktober Israel angegriffen hat und der Nahostkonflikt neu aufgeflammt ist, leben viele Jüdinnen und Juden hierzulande wieder in Angst.
Auch an den hessischen Universitäten hinterlässt der Konflikt seine Spuren: Bei Gedenkveranstaltungen in Frankfurt und Kassel wurden Parolen gerufen, die Veranstaltung in Kassel musste abgebrochen werden. Zuvor hatte es dort Aufregung um eine Vorführung des Films "Gaza Fights for Freedom" gegeben, diese wurde letztendlich untersagt.
Daniel Navon ist Vorstandsmitglied der Verbands Jüdischer Studierender Hessen (VJSH). Im Interview berichtet er vom Hass, der jüdischen Studierenden derzeit unter anderem in den Sozialen Medien entgegenschlägt, und formuliert Forderungen an die Universitäten, die das Sicherheitsgefühl von jüdischen Studierenden verbessern könnten.
Das Gespräch führte Sonja Fouraté.
hessenschau.de: Herr Navon, wie erleben jüdische Studierende seit dem 7. Oktober die Atmosphäre an hessischen Hochschulen?
Daniel Navon: Der 7. Oktober war ein Schock für die jüdische Gemeinde weltweit. Das Sicherheitsgefühl ist tief zerrüttet. Viele jüdische Studierende haben ihre Identität schon vorher versteckt, jetzt wird das noch deutlicher. Es gibt außerdem kaum Zeit zu trauern oder den Schock aufzuarbeiten, weil es Krieg in Israel und im Gazastreifen und hier eine große antisemitische Welle gibt.
Das spüren wir auch auf dem Uni-Campus - dort, wo jüdische Studierende einfach ihrem Alltag nachgehen wollen. Sie sind eingeschüchtert. Gleichzeitig gibt es Frust und Wut auf die Politik, die Gesellschaft, auf die Kommilitonen. Jüdischen Studierenden fehlt es an Solidarität.
hessenschau.de: Hessische Hochschulen haben nach dem 7. Oktober aber recht schnell Solidaritätsbekundungen mit Israel veröffentlicht.
Navon: Die gab es nicht von allen Unis, es gab auch keinen konkreten Bezug zur jüdischen Gemeinschaft. Und das ist auch überhaupt nicht ausreichend. Es braucht konkrete Maßnahmen, die jüdische Studierende schon seit langem fordern.
hessenschau.de: Welche sind das?
Navon: Es gibt die IHRA-Definition von Antisemitismus, eine wissenschaftlich anerkannte Definition (IHRA ist das englische Kürzel der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken, Anm. d. Red.). Diese sollte in öffentlicher Art und Weise aufgenommen und in universitäre Richtlinien eingearbeitet werden. Jüdische Studierende brauchen außerdem eine Anlaufstelle, vor allem für den Fall, dass sich Lehrpersonal antisemitisch äußert. Antidiskriminierungsbeauftragte wiederum müssen gezielt geschult werden.
Organisationen und Akteuren, die sich volksverhetzend oder terrorverherrlichend äußern, sollte keine Plattform geboten werden. Sie sollten mit Maßnahmen rechnen müssen, etwa mit Abmahnungen oder Disziplinarverfahren. Es kann nicht sein, dass sie in aller Sichtbarkeit ihren Hass zur Schau stellen können und jüdische Studierende dann Angst haben, ihre Identität zu zeigen.
Langfristig braucht es Förderung von Bildungsprojekten. Man muss immer wieder über Antisemitismus sprechen.
hessenschau.de: Wie stellt sich die konkrete Situation seit dem 7. Oktober für Studierende dar? Gab es Angriffe, gab es verbale Gewalt?
Navon: Beides. Wir hören von vielen jüdischen Studierenden vor allem, dass sie in den Sozialen Medien angegriffen werden, allein weil sie einen Namen in hebräischer Schrift oder einen Davidstern im Profil haben. Auch von Kommilitonen erfährt man manchmal Unwissen und die Verbreitung von Propaganda bis hin zu Verschwörungstheorien - selbst von Freunden, denen man eigentlich vertraut hat.
Die Tatsache, dass man eingeschüchtert ist, sich versteckt, seine Identität nicht zeigt, sich nicht äußert, ist eine Folge von psychischer Gewalt. Das spüren wir sehr deutlich.
hessenschau.de: Gibt es Unis, die sich im Umgang mit dem Thema Antisemitismus ungeschickter anstellen als andere? In Kassel zum Beispiel musste am Donnerstag eine Gedenkfeier abgebrochen werden. Vorher gab es dort Aufregung um eine Filmvorführung, die zuerst genehmigt, dann wieder untersagt wurde.
Navon: Kassel und Marburg sind schon lange Hotspots von antisemitischen Vorfällen auf dem Campus. Der Film "Gaza Fights for Freedom", der in Kassel ausgestrahlt werden sollte, arbeitet mit Verschwörungstheorien, falschen Aussagen und entmenschlichenden Bildern von Israelis. Das ist sehr gefährlich.
Die Filmemacherin hat sich terrorverherrlichend, sogar jubelnd zum 7. Oktober geäußert. Der Kasseler AStA hat den Film am 23. Oktober genehmigt, zwei Wochen nach dem Terrorangriff. Entweder hat man sich mit dem Film nicht beschäftigt oder die internen Richtlinien haben völlig versagt.
Jüdische Studierende der dortigen Hochschulgruppe haben sich auch dazu geäußert, sind aber zunächst völlig ignoriert worden. Nachdem die Aufführung schließlich untersagt worden war, sind die Uni und der AStA auf die lokale jüdische Hochschulgruppe zugekommen. Wir hoffen, dass sich etwas ändert, werden aber mit Argusaugen beobachten, wie langfristig reagiert wird, insbesondere in Kassel als Stadt der documenta fifteen (die Ausstellung stand wegen antisemitischer Darstellungen in manchen Kunstwerken stark in der Kritik, Anm. d. Red.).
hessenschau.de: Auch in Frankfurt gab es am Dienstag eine Gedenkfeier.
Navon: Es war eine spontane Kundgebung an der Goethe-Uni, bei der irgendwann "Free Palestine from the river to the sea" gerufen wurde - unter dem Deckmantel, dass man der palästinensischen Opfer gedenken will, was völlig legitim und menschlich wäre. Das wurde dann aber skrupellos genutzt, um Hassparolen auszurufen. Die Goethe-Uni hat eine Strafanzeige gegen die Organisatoren gestellt.
Bei uns jüdischen Studierenden hat das Ganze dennoch zu einem großen Fragezeichen geführt. Wie konnte das passieren, obwohl die Uni sich solidarisch gezeigt und Antisemitismus verurteilt hat?
hessenschau.de: Was können die Unis derzeit konkret tun? Ist es besser, momentan keine Gedenkveranstaltungen zuzulassen?
Navon: Gedenkveranstaltungen sind menschlich und legitim. Es braucht meines Erachtens die Trauer um alle Zivilistinnen und Zivilisten. Dabei dürfen aber keine Hassparolen zugelassen werden. Organisationen, von denen man von Beginn an davon ausgehen kann, dass sie sich volksverhetzend äußern - basierend auf Erfahrungswerten - sollten meines Erachtens nicht auf Uni-Campussen zugelassen werden. Die Tatsache, dass diese Organisationen palästinensisches Leid für die Normalisierung von antiisraelischen bis hin zu antisemitischen Positionen instrumentalisieren, zeigt nochmals, wohin ideologischer Menschenhass führt.
hessenschau.de: Plant der Verband Jüdischer Studierender Hessen selbst Gedenkveranstaltungen zum 9. November, dem Jahrestag der Nazi-Pogrome gegen Jüdinnen und Juden?
Navon: Das ist ein Thema, das mir persönlich sehr weh tut. Wir arbeiten eng mit der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) zusammen. Wir wollten auf dem Uni-Campus gemeinsam ein israelisch-jüdisches Erinnerungskonzept mit dem Namen "Zikaron Basalon" ("Erinnerung im Wohnzimmer") zum 9. November organisieren. Das wurde aus Sicherheitsgründen von jüdischer Seite abgesagt und findet stattdessen online statt.
Es ist eine zynische Realität, dass unter dem Deckmantel von Gedenkveranstaltungen Hassparolen von antiisraelischen Organisationen verbreitet werden, während jüdische Organisationen in diesem bedrohlichen Klima Gedenkveranstaltungen aus Sicherheitsbedenken absagen.
hessenschau.de: Was wünschen Sie sich in dieser Gemengelage von Ihren Kommilitonen?
Navon: Zwei Themen will ich ansprechen. Zum einen Antisemitismus: Es ist höchst verwunderlich für mich, dass sich junge Erwachsene mit allen möglichen Themen beschäftigen, sei es Diskriminierung, mit Rassismus, mit Kolonialismus, mit Sexismus - was an und für sich ein sehr gutes Zeichen ist.
Aber was Antisemitismus betrifft, herrscht - gerade hier in Deutschland - ein unglaublicher Mangel an Wissen. Wie sich Antisemitismus ausdrückt, wie man darauf sensibel reagiert, dass das Thema nicht belächelt wird. Auch über jüdische Identität, jüdische Vielfalt, jüdische Geschichte, ihren Beitrag zur europäischen Geschichte herrscht unglaublich viel Unwissen. Das ist etwas, was für mich absolut unverständlich ist, gerade bei jungen Erwachsenen. Das zeigen auch Studien aus den USA. Ich wünsche mir von Kommilitonen einen besseren und sensibleren Umgang mit dem Thema Antisemitismus.
Das zweite Thema: der Nahostkonflikt. Es ist fürchterlich, denn an Universitäten wird die Zukunft gemacht. Hier wird gelernt, Themen kritisch anzugehen, wie man mit Fakten umgeht. Das spiegelt sich aber sehr selten wider, wenn man über den Nahostkonflikt spricht. Die Komplexität des Nahostkonflikts, jüdische Perspektiven, palästinensische Perspektiven, dass man sich langfristig damit beschäftigt, im Sinne der Völkerverständigung - das fordere ich von Kommilitonen, wenn sie wirklich Positives zu dieser Debatte beitragen wollen.
hessenschau.de: Was geben Sie denjenigen mit, die auf den Kontext der Hamas-Angriffe verweisen, der "Ja, aber …-Fraktion"?
Navon: Diese Haltung ist inakzeptabel. Was wir am 7. Oktober gesehen haben, das war ein Massaker an unschuldigen Zivilisten. Da wurden nicht nur Militärposten überrannt. Man hat Pläne gehabt - nachgewiesenermaßen - Kinder, Frauen, ältere Menschen, Männer zu ermorden, als Geiseln zu nehmen, zu foltern und zu vergewaltigen.
Das "Ja, aber …" sehen wir auch in Kommentaren oder Pseudo-Analysen. Wenn man dabei nicht über Islamismus spricht, nicht über Iran spricht, mit den Verflechtungen des Mullah-Regimes, wenn man nicht über den Erlösungs-Antisemitismus spricht, der ganz klar aus der Hamas-Charta herauszulesen ist, wenn man darüber nicht spricht, dann fehlt auch der Kontext. Dann ist es eine Verfälschung, die relativierend und sehr gefährlich für Juden weltweit ist.