Kaputtes Kirchendach in Kassel Hätte der Einsturz der Elisabethkirche verhindert werden können?
Experten fordern seit fast zwanzig Jahren: Große Holzbauwerke müssen regelmäßig von Gutachtern überprüft werden. Bei der eingestürzten Kasseler Elisabethkirche geschah dies nicht. Warum nicht?
Eine offizielle Ursache für den Einsturz der Kasseler Elisabethkirche gibt es noch nicht. Klar ist jedoch: Im Dach der Kirche waren Holzträger verbaut, sogenannte Kämpf-Stegträger. Diese wurden in den 1960er-Jahren in vielen Bauwerken verbaut. Sie waren günstig und deshalb beliebt. Doch sie wiesen immer wieder auch Materialfehler auf.
Schon in der Vergangenheit habe der Leim durch Feuchtigkeit oft seine Klebekraft verloren, sagt Stefan Winter, Professor für Holzbau und Baukonstruktion an der TU München. Diese Fehler seien auch in der Eissporthalle im bayrischen Bad Reichenhall 2006 maßgeblich für den Einsturz verantwortlich gewesen.
Die TU München belegte 2006 unter seiner Mitarbeit, dass bei vielen vergleichbaren Holzbauwerken ähnliche Schäden auftauchen. Große Tragwerke sollten deshalb regelmäßig genau überprüft werden, sagt Winter.
Regelmäßige Überprüfung nötig, aber selten umgesetzt
Das Dach der Eissporthalle in Bad Reichenhall erschlug damals 15 Menschen, 34 weitere wurden verletzt. Nach der Tragödie reagierte die Politik: So verabschiedete die Bauministerkonferenz ARGEBAU Hinweise zur Überprüfung von Bauwerken. Sie empfahl mindestens alle 12 bis 15 Jahren eine Überprüfungen solcher Holzkonstruktionen.
Dies halten Experten wie Winter nach wie vor für sinnvoll. In der Kasseler Elisabethkirche ist eine solche gutachterliche Kontrolle aber nicht vorgenommen worden. Sie ist allerdings auch nicht vorgeschrieben.
Laut Hessischer Versammlungsstättenrichtlinie werden "Räume, die dem Gottesdienst gewidmet sind" generell nicht durch die Bauaufsichtsbehörden kontrolliert.
Rechtlich sind die Eigentümer verantwortlich. "Die bauphysikalischen Bedingungen hätten in der Elisabethkirche keinen Anlass gegeben, nähere Untersuchungen des Holztragwerks durchzuführen", erklärt die Pressestelle des Bistums Fulda. Jede Gemeinde kontrolliere selbst den Zustand ihrer Gebetshäuser. Die meisten verließen sich dabei auf Sichtkontrollen durch Kirchenpersonal statt Experten.
Eigenverantwortliche Kontrollen
Winter hält das für problematisch: "So ein Gebäude ist sehr komplex, es braucht immer Wartung und Überprüfung. Wie soll ein Laie die entstehenden Probleme sehen?", fragt er. Eine Kontrolle könne nur aus nächster Nähe durchgeführt werden.
Die verschiedenen Bistümer und Landeskirchen können auf Anfrage entweder keine Angaben zu ihren Prüfverfahren machen oder sie kontrollieren die Bauten nach internen Richtlinien. Nur die Evangelische Landeskirche Hessen-Nassau orientiere sich bei der Überprüfung an der VDI-Richtlinie 6200.
Wie die ARGEBAU-Hinweise ist auch diese eine unter Experten anerkannte Richtlinie. Auch nach ihr sollten Gebäude mit einer Tragweite von über zwölf Metern in einem Abstand von 12 bis 15 Jahren immer wieder sehr genau von einem sachkundigen Gutachter untersucht werden.
Hohes Risiko durch Stegträger
Gerade die Kämpf-Stegträger sollten einer anderen ARGEBAU-Richtlinie aus dem Jahr 2013 zufolge wegen der Anfälligkeit des Leimes bei Nässe dringend überprüft werden. Die Bischofskonferenz hat die entsprechenden Bauwerke nach eigenen Aussagen auch auf dem Zettel.
Sie schreibt hessenschau.de, dass sie "kritische Leimbinder-Konstruktionen" während der Instandhaltung registriert habe. Diese seien bei den Bistümern zu erfragen. Weitere Infos dazu erhalten wir nach einer Abfrage der hessischen Bistümer dazu aber nicht.
In der Elisabethkirche sei es nicht feucht gewesen, sagt das Bistum Fulda. Das würden die aufgezeichneten Klimadaten der Kirche belegen. Deshalb habe es aus Sicht der Verantwortlichen keinen Anlass gegeben, das Tragwerk zu überprüfen. Die Kontrollen erfolgten auch hier durch Kirchenvertreter, Kuratoren oder Verwaltungsräte.
Holzbauweise heute problematisch
Trotzdem stellt sich die Frage, ob nicht der Einsturz der Kirche durch gutachterliche Kontrollen hätte verhindert werden können. Diese Kontrollen hätten eben ihren Sinn, sagt Winter zu hessenschau.de. Gerade in den Nachkriegsjahrzehnten sei zwar viel gebaut worden, die fehlerfreie Umsetzung der Planungen sei aber oft nicht ausgeprägt genug überprüft worden.
Die Kämpf-Stegkonstruktion hätten schon damals oft nicht dem industriellen Standard entsprochen. Ein Gebäude wie die Elisabethkirche würde heute aus Sicherheitsgründen anders konstruiert. Es würde weniger geleimt und die Träger zusätzlich gesichert.
Winter betont, die Konstruktionen seien oft nur auf fünfzig Jahre ausgelegt gewesen. Heute seien es deshalb vor allem die Gutachter, die erkennen könnten, ob ein Holzbauwerk einsturzgefährdet ist. Mit bloßem Auge seien Schäden nicht immer zu erkennen. Das Gefahrenpotential wachse aber, solange diese Tragwerke nicht regelmäßig überprüft würden, sagt Winter.
Weitere Kirchen in Hessen gesperrt
Nach dem Einsturz der Elisabethkirche sind inzwischen weitere Kirchen mit Holzkonstruktion in Hessen und auch bundesweit geschlossen worden. In Darmstadt hatte der Leiter der Bauabteilung des Dekanats der Evangelischen Landeskirche Hessen-Nassau den Zusammensturz der Elisabethkirche bestürzt im hr-Fernsehen mitangesehen und direkt reagiert.
Zwei ähnliche Bauten, die Michaelskirche und die Kirche der Melanchthongemeinde in Griesheim, wurden geschlossen. Seine Landeskirche ist die einzige, die die VDI-Richtlinie nach eigener Aussage konsequent umsetzt. Die Kirchen müssen nun von Experten untersucht werden.
Winter wünscht sich das für alle größeren Bauwerke: "Man kann nicht davon ausgehen, dass ein Gebäude hingebaut wird und dann alle Ewigkeiten übersteht", sagt er. Um weitere Zusammenbrüche zu verhindern brauche es zukünftig eine Art Gebäude-TÜV, der jedes Bauwerk regelmäßig technisch abnehme.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 22. Dezember 2023, 19.30 Uhr
Redaktion: Andreas Bauer